Interview mit Nathalie Oberthür Trends im Arbeitsrecht: Agile Teams und Mitarbeiter rechtlich sicher steuern

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Digitalisierung, Fachkräftemangel, neue Flexibilitäten und dann auch noch Corona: Arbeitgeber stehen einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. handwerk magazin befragte Nathalie Oberthür, Fachanwältin für Arbeitsrecht, wie Chefs damit umgehen.

Welche Rcihtung nehmen wir?
Mobilität, Flexibilität, Freiheit – mit gesellschaftlichen Trends stellen sich neue juristische Fragen. Nicht immer liegen die Antworten schon konkret parat. - © metamorworks - stock.adobe.com

Unabhängig von der Pandemie gehen tiefgreifende Änderungen durch die Arbeitswelt. Digitalisierung und Fachkräftemangel stellen Unternehmer vor große Aufgaben, andererseits pochen Mitarbeiter auf mehr Flexibilität und mehr Freizeit. All dies wird flankiert von gesellschaftlichen Trends, die berücksichtigt werden wollen. handwerk magazin sprach mit Nathalie Oberthür, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Partnerin der Arbeitsrechtskanzlei RPO Rechtsanwälte in Köln, wie sich Chefs in diesen Zeiten juristisch korrekt verhalten.

handwerk magazin: Stichwort Corona: Was war für Sie arbeitsrechtlich die erstaunlichste Entscheidung im abgelaufenen Jahr?

Nathalie Oberthür: Das war das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Betriebsrisiko bei flächendeckenden Schließungen aufgrund einer SARS-CoV2-Allgemeinverfügung. Die Richter stellten fest, dass das Risiko des Entgeltausfalls allein beim Arbeitnehmer und nicht beim Arbeitgeber liegt. Die Absicherung der Arbeitnehmer sei in einem derartigen Fall eine staatliche Aufgabe, die über das Kurzarbeitergeld ja auch weitgehend erfolgt ist. Inhaltlich ist das Urteil richtig, wenngleich es doch erstaunt hat. Es zieht zudem einige sozialversicherungsrechtliche Folgefragen nach sich. In dem Fall ging es um eine Minijobberin, die durchs Raster gefallen war. Möglicherweise brauchen wir für Extrem- und Katastrophenfälle eine bessere soziale Absicherung für Arbeitnehmer, was sich auch bei der Flutkatastrophe gezeigt hat.

Nun erwarten wir ja demnächst eine Impfpflicht. Dennoch: Was raten Sie Vorgesetzten, die mit Impfgegnern und Coronaleugnern konfrontiert sind?

Ich hätte mir 3G in den Betrieben viel früher gewünscht. Die Transparenz über Impfungen und Testergebnisse erleichtert die Ausgestaltung der Hygienekonzepte. Aufklärung ist zudem unerlässlich. Ich selbst habe mein Team über die dringende Notwendigkeit der Impfung zur Bewältigung der Pandemie aufgeklärt und konnte einige, die noch unsicher waren, überzeugen. Chefs können die nicht immer optimale Kommunikation von Politik und Medien auffangen – wenn sie sich die Zeit dafür nehmen. Bringt das nichts, gibt es jetzt zusätzlich die Möglichkeit zu sagen: Das müssen wir jetzt tun, füg dich oder bleib zu Hause – mit allen Konsequenzen.

Wie treten Handwerker Mitarbeitern entgegen, die trotz Corona-Kurzarbeit auf ihre Urlaubsansprüche pochen?

Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass es bei Kurzarbeit Null keine Urlaubsansprüche gibt. Das Bundesarbeitsgericht teilt diese Einschätzung und schließt mit dem Urteil von Ende November eine gesetzliche Lücke. Andererseits muss man auch sehen, dass Kurzarbeit viele Arbeitnehmer finanziell sehr hart trifft. Da könnte der dennoch gewährte Urlaub eine Art Ausgleich sein – einen Anspruch darauf gibt es aber nicht.

Aufgrund des Fachkräftemangels tun sich Handwerkschefs schwer, auf ihren Rechten zu beharren. Schließlich kann der Fachmann jederzeit zur Konkurrenz wechseln. Haben Sie Praxis-Tipps, wie man korrekt agiert, ohne als Chef den Kürzeren zu ziehen?

Junge Leute fordern heute viel: Geld, Wertschätzung, Work-Life-Balance, die sofortige Übernahme von Verantwortung. Als Chef hat jeder seine individuelle Vorstellung über einen fairen Austausch im Arbeitsverhältnis und kann dementsprechend seine Arbeitsverträge gestalten. Was dabei hilft, ist eine klare eigene Haltung zu Werten und Erwartungen, die das Unternehmen als Arbeitgeber auch attraktiv machen.

Stichwort Zeiterfassung: An und für sich wäre der Gesetzgeber an der Reihe, das Thema Arbeitszeiterfassung allgemeingültig zu regeln. Warum passiert aus Ihrer Sicht noch nichts?

Sobald wir Arbeitszeiten erfassen, stellen wir fest, dass in vielen Fällen die starren Vorgaben des Arbeitzeitgesetzes nicht eingehalten werden und Arbeitnehmer häufig auch mehr arbeiten, als sie laut Vertrag eigentlich müssten. Beides sollten wir nicht akzeptieren. Meiner Meinung nach hat sich der Europäische Gerichtshof relativ klar dazu geäußert, dass wir Arbeitszeiterfassung verpflichtend einführen müssen. Ein Problem dabei ist: Das Unionsrecht sieht nur eine wöchentliche Arbeitszeit vor, während wir in Deutschland zusätzlich eine tägliche Höchstarbeitszeit festschreiben. Auch gibt es verpflichtend Ruhezeiten von elf Stunden, was eine auch von Arbeitnehmern gewünschte flexible Gestaltung der Arbeitszeit erschwert und damit häufig Frauen mit Sorgeaufgaben benachteiligt. Hier bräuchte es dringend fexiblere gesetzliche Regeln.

Was erwarten Sie dazu von der neuen Regierung?

Im Koalitionsvertrag ist von Experimentierräumen die Rede, in denen eine begrenzte Abweichung von der täglichen Höchstarbeitszeit zugelassen werden soll. Dazu wird es sicherlich gesetzliche Entwicklungen geben.

Blicken wir auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes, bei dem einem Feuerwehrmann jüngst verwehrt wurde, die Bereitschaftszeit als Dienstzeit abzurechnen (EuGH, Aktenzeichen C-214/20): Stellen Sie einen Trend fest, der den Arbeitgeber wieder eher bevorzugt?

Der Europäische Gerichtshof ist in seiner Rechtsprechung dazu sehr konsistent: Rufbereitschaft ist Arbeitszeit, wenn der Arbeitnehmer in der Möglichkeit, seine Zeit frei zu gestalten, objektiv erheblich eingeschränkt ist. In dem genannten Fall war der Feuerwehrmann hauptberuflich noch selbstständig tätig, was gegen eine solche Bewertung spricht. Umstritten ist bislang, ob auch Dienstreisen als Arbeitszeit gelten. Die Fahrt des Handwerks­gesellen zum Kunden ist Arbeitszeit, während die Anreise zu einer weit entfernten Baustelle in der Praxis häufig als Freizeit behandelt wird. Dies wird nach einer Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs zur Arbeitszeit bei Dienstreisen (Aktenzeichen E-11/20) so nicht mehr haltbar sein.

Auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) des Mitarbeiters in bestimmten Fällen angezweifelt werden kann, bezieht Stellung für den Arbeitgeber (BAG, Aktenz. 5 AZR 149/21). Wie werten Sie diese Entscheidung?

Dies ist eine sehr wichtige Entscheidung und dürfte das Problembewusstsein beim „Krankfeiern“ erhöhen. Tatsache ist ja: Der Mitarbeiter betrügt den Chef mit dem Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit. Das ist vergleichbar mit einem Griff in die Kasse. Das Ausstellen und Verwenden von ärztlichen Gefälligkeitsattesten ist nach einer Gesetzesänderung jetzt auch eine eigenständige Straftat.

Welche arbeitsrechtlichen Fragen bringt die Gewährung von Homeoffice mit sich? Benachteiligt man als Chef Mitarbeiter, die beim Kunden vor Ort sein müssen? Und wie bauen Unternehmer vor, um nicht in den Verdacht der Ungleichbehandlung zu geraten?

Ich halte das mobile Arbeiten für eine der spannendsten Entwicklungen unserer Zeit. Allerdings bringt es eine Reihe von Fragen mit sich: Wie steht es um den Arbeitsschutz im Homeoffice, den Gesundheitsschutz oder den Datenschutz? Mobiles Arbeiten im Ausland hat womöglich sozialversicherungs- und steuerrechtliche Konsequenzen. Möglicher­weise kommt auch bald ein Gesetz, das Arbeitnehmern in geeigneten Berufen ein Antragsrecht auf Homeoffice gibt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist demgegenüber kein großes Thema. Denn Fliesenleger und Klempner können nun mal nicht im Homeoffice arbeiten.

Chefs stehen vor der Herausforderung, einerseits die sich ändernden Auftragslagen mit ausreichend Personal abzuarbeiten, andererseits die individuellen Wünsche der Mitarbeiter nach Flexibilität zu berücksichtigen. Wie gelingt der Spagat juristisch korrekt?

Das lässt sich pauschal schwer beantworten. Es kommt sehr darauf an, was der Arbeitsvertrag – etwa Arbeit auf Abruf – regelt. Manches lässt sich auch mit Gleitzeitkonten in den Griff bekommen. Oft kollidieren hier dennoch die Interessen des Arbeitgebers und die Ansprüche des Mitarbeiters auf Planbarkeit. Im Zweifel muss der Arbeitgeber sein Direktionsrecht ausüben und die Verteilung der Arbeit sachgerecht steuern. Den Mitarbeiter nach Hause zu schicken, wenn der Kunde plötzlich absagt, geht aber natürlich nicht.

Junge Leute wollen nicht in Hierarchien arbeiten, sondern selbst mitgestalten. Wie bewerten Sie diesen Trend?

Arbeitnehmer möchten Arbeitsort, Arbeitszeit und die Inhalte ihrer Aufgaben immer öfter selbst bestimmen. Die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Schutzkonzepte für Arbeitnehmer beruhen jedoch darauf, dass sie dem Weisungsrecht des Chefs unterliegen. Die vollständige Entscheidungsfreiheit liegt einem Arbeitsverhältnis fern, sie ist das Wesensmerkmal einer selbstständigen Tätigkeit. Auch hier müssen wir aber als Gesellschaft überlegen, ob Schutzkonzepte auch für kleine Selbstständige erforderlich sind, etwa für Handwerker, die ihre Leistungen über eine Plattform anbieten.

Die Digitalisierung nimmt zu, auch kleine Betriebe rüsten auf. Welchen Tipp haben Sie für Chefs, die es mit einer nicht besonders veränderungsfreudigen Belegschaft zu tun haben?

Ich empfehle, die Ängste der Mitarbeiter wahrzunehmen, sie in Teamrunden und Gesprächen zu thematisieren und durch geeignete Qualifizierung abzubauen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können hier von Förderungen profitieren. Erst in einem letzten Schritt könnte man über eine verpflichtende Qualifizierung nachdenken. Was so viel heißt wie: Wenn der Mitar­beiter sich einer notwendigen Fortbildung verweigert und deshalb für den Arbeitsplatz nicht mehr geeignet ist, könnte dies eine Kündigung nach sich ziehen.

Was raten Sie Chefs generell, um ihr Personal arbeitsrechtlich korrekt durch turbulente Zeiten zu führen?

Wahrnehmung, Wertschätzung und gute Kommunikation führen oft zu guten ­Lösungen. Zudem schärfen gute Chefs permanent ihr eigenes Wertesystem. Führen durch Persönlichkeit ist aus ­meiner Sicht das Stichwort.

Vita Nathalie Oberthür

Dr. Nathalie Oberthür ist Fachanwältin für Arbeits- und Sozialrecht und Partnerin der Arbeitsrechtskanzlei RPO Rechtsanwälte in Köln. Als Vorsitzende des Arbeitsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins wirkt sie an Gesetzgebungsprozessen aktiv mit. Darüber hinaus hat sie sich als Herausgeberin, Autorin sowie als Referentin einen Namen gemacht.

Ausgewählte Urteile

Aktuelle Urteile des Bundesarbeits­gerichts (BAG) konkretisieren rechtlich strittige Sachverhalte, die Richter geben Rückenwind – oder wehren ab, zum Beispiel in diesen Fällen:

  • Risiko des Lohnausfalls: Das Risiko des Lohnausfalls liegt beim Arbeitnehmer, nicht beim Unternehmen (BAG, Aktenzeichen 5 AZR 211/21). In dem Fall hatte eine Minijobberin auf Lohnfortzahlung geklagt, nachdem ihr Betrieb nach einer SARS-CoV2-Allgemeinver­fügung geschlossen worden war.

  • Kein Urlaubsanspruch bei Kurzarbeit Null: Die Klage einer Verkäuferin wurde zurückgewiesen, die von April bis Dezember 2020 wiederholt in Kurzarbeit Null war. Der Arbeitgeber hatte ihren Urlaubsanspruch anteilig gekürzt. (BAG, Aktenz. 9 AZR 225/21).

  • Ein Crowdworker ist ein Arbeitnehmer: Ein als Crowdworker selbstständig tätiger Mann, der Aufträge von einer Plattform entgegennahm und gegen Bezahlung abarbeitete, hatte eine Kündigungsschutz­klage erhoben, nachdem er nach Unstimmigkeiten keine Aufträge mehr erhielt. Die Richter bestätigten, der Mann habe arbeitnehmerähnlich, weisungsgebunden und fremdbestimmt gearbeitet (BAG, Aktenzeichen 9 AZR 102/20).