Integration von Kriegsflüchtlingen Geflüchtete aus der Ukraine: Wie das Handwerk hilft und profitiert

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Fachkräftemangel, Flüchtlinge und Ukraine-Konflikt

Seit Kriegsbeginn sind über 610.000 Ukrainer in Deutschland eingetroffen. Viele Frauen mit Kindern, aber auch Männer. Drei Handwerksbetriebe zeigen, wie sie unter Geflüchteten neue Mitarbeiter fanden und aus der Not eine Win-win-Situation machten. Lesen Sie außerdem: Wie Sie neue Mitarbeiter aus dem Krisengebiet unkompliziert in Ihr Team integrieren.

Bianca Rosenhagen, Metallbau in Burgwedel bei Hannover
Bianca Rosenhagen, im gleichnamigen Metallbau-unternehmen ihres Mannes im niedersächsischen Burgwedel bei Hannover zuständig für Personal und Marketing. - © Franz Fender

1. Integration gelingt durch den Job

Anträge, Formulare, Behördengänge – der beschwerliche Weg durch den Bürokratie-Dschungel blieb der Firma Metallbau Rosenhagen aus Burgwedel bei Hannover größtenteils erspart, als sie im April eine Fachkraft aus der Ukraine eingestellt hat. „Wir hatten enorme Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern und einem engagierten Ruheständler, der sich von der Meldung bei der Ausländerbehörde bis zur Wohnungsvermittlung um alles gekümmert hat“, sagt Bianca Rosenhagen, in dem Familienbetrieb zuständig für Personal und Marketing. Ihr Mann Heiko leitet als Geschäftsführer die Firma in der dritten Generation. Bianca Rosenhagen ist überzeugt, dass sich nicht jeder Betrieb auf ein so gut funktionierendes Netzwerk verlassen kann: „Umso wichtiger ist, dass bürokratische Hürden verstärkt abgebaut werden – damit Menschen, die aus dem Ausland als Fachkräfte zu uns kommen, schnell bei uns im Handwerk arbeiten können. Wir suchen händeringend Fachkräfte!

Gespräch, Prüfung, Arbeitsvertrag

Daher war Bianca Rosenhagen sofort interessiert und aufgeschlossen, als der ehrenamtliche Helfer bei ihr im Büro stand und fragte, ob der Betrieb Verstärkung gebrauchen könnte. Der Ukrainer, der seine Frau und Kinder noch vor Kriegsausbruch hierher gebracht hatte, sei im Metallbau ausgebildet und suche Arbeit. „Wir haben den Mann gleich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen“, sagt sie. „Wie bei allen unseren Bewerbern waren wir auch diesmal sorgfältig: Passt er zu unserem modernen Betrieb, ins engagierte Team und zu der Aufgabe, die wir bieten? Spüren wir die Motivation und die Begeisterung für den Beruf?“ Der Ukrainer überzeugte die Rosenhagens und erhielt einen Arbeitsvertrag.

Der Familienbetrieb, der dieses Jahr 70-jähriges Bestehen feiert, kennt sich mit der Integration Geflüchteter bereits sehr gut aus. „Wir haben vor einigen Jahren einen jungen Syrer eingestellt, der bei uns eine Ausbildung zum Metallbauer erfolgreich absolvierte und inzwischen in unserer Werkstatt als Leiter für den Zuschnitt arbeitet“, berichtet Bianca Rosenhagen.

Bleibt die Frage, wie man miteinander kommuniziert, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt. „Mithilfe einer Übersetzungs-App auf dem Handy läuft die mündliche und schriftliche Kommunikation mit dem neuen Kollegen aus der Ukraine hervorragend“, erläutert die Unternehmerin. Sprachliche Barrieren zu überwinden ist ein wichtiger Bestandteil der Integration, davon ist auch Bianca ­Rosenhagen überzeugt. Deshalb stellt ihr Betrieb den neuen Mitarbeiter auch frei, damit er einmal pro Woche an einem Deutsch-Sprachkurs teilnehmen kann.

„Aus meiner Sicht sollten Fach­kräfte aus dem Ausland aber nicht erst einen Sprachkurs erfolgreich abgeschlossen haben müssen, bevor sie hier bei uns in einem Betrieb arbeiten können“, meint sie. „Integration gelingt am besten durch den Job, die Sprache wird mitgelernt.“ Ein Sprachkurs solle zusätzlich zum Job angeboten werden und nicht die Voraussetzung für einen Job sein. Deshalb sorgte Bianca Rosenhagen gleich dafür, dass ihr neuer Mitarbeiter aus der Ukraine am obligatorischen Erste-Hilfe-Kurs teilnimmt – auch ohne Deutschkenntnisse. Dabei konnte sie sich einmal mehr auf ihre Mitarbeiter ver­lassen, „die stets zur Stelle sind, wenn der neue Kollege Fragen hat“.

2. Kluge Köpfe: Kostenlose Haarschnitte für Geflüchtete

Liudmila Böhm u Nadyia Pavlenko
Liudmila Böhm (rechts), Inhaberin des Salons Ellen in Göttingen, und ihre neue Mitarbeiterin Nadyia Pavlenko aus der Ukraine. - © Franz Fender

Als der Krieg gegen die Ukraine begann und in Göttingen ein Netzwerk für Spenden und Anlaufstellen für Geflüchtete aufgebaut wurde, beschloss Liudmila Böhm, ihre Fertigkeiten in ihrem Friseursalon Ellen anzubieten: kostenlose Haarschnitte für Geflüchtete aus der Ukraine. „Ich wollte helfen, so gut ich konnte“, erklärt Böhm, die den Salon seit 2016 führt. Ihr Angebot wurde dankend angenommen. Bisher kamen ihren Schätzungen zufolge über 800 Ukrainer zum Haareschneiden vorbei. Auf das Angebot der kostenlosen Haarschnitte meldete sich auch Nadyia Pavlenko. Die Friseurin war gerade mit ­ihrem Sohn, ihrer Schwester und einer Freundin aus Kiew vor dem Krieg geflohen und wollte dasselbe wie Friseurin Böhm – helfen und sich nützlich machen.

Dankbarkeit statt Feindseligkeit

Böhm, die als gebürtige Russin selbst Ukra­inisch beherrscht, ließ die junge Frau zunächst ein Praktikum absolvieren, merkte aber schnell, dass die junge Geflüchtete ausgezeichnete Arbeit leistete und sie ihr nicht ständig über die Schulter schauen musste. Seit 1. Mai 2022 ist Nadyia fest angestellt im Salon Ellen. Böhm kam selbst 1998 nach Deutschland. Hat sie Anfeindungen erlebt, weil sie selbst Russin ist? – Keineswegs: „Die Leute sind einfach dankbar“, beschreibt sie. „Und es hat noch nie einer etwas gesagt, weil ich Russin bin. Wir alle wissen, das ist Putins Krieg und nicht der Krieg von Russen gegen Ukrainer.“

Verständigung auch per App

In dem 80 Quadratmeter großen Salon arbeiten vier weitere Friseure, darunter der ehemalige Besitzer, von dem Böhm den Salon übernommen hat. Für die Verständigung zwischen der ukrainischen Angestellten, den deutschen Kunden und ihren übrigen Mitarbeitern ist vorerst Böhm zuständig. Sie übersetzt aus dem Ukrainischen, viele Ukrainer beherrschen aber auch Russisch. Zudem lernt die Friseurin aus dem Krisengebiet aktuell Deutsch mithilfe ihrer Kollegen. Sollte Inhaberin Böhm mal nicht im Salon sein, läuft die Verständigung über eine Übersetzer-App.

Nadyia Pavlenkos Ausbildung ist zwar eine andere als die der deutschen Friseure – „das macht aber nichts“, sagt Böhm. „Nadyia hat sich selbstständig weitergebildet und beherrscht wirklich alles perfekt.“ Auch die Kunden seien zufrieden. Das tue natürlich gut und gebe Sicherheit. Böhm selbst erinnert sich gut daran, wie sie sich fühlte, als sie 1998 nach Deutschland kam: „Alles ist neu, die Sprache, das Land und man weiß nicht, wie es weitergeht.“

Daher war es Böhm auch ein Anliegen, ihrer neuen Mitarbeiterin durch die deutsche Bürokratie zu helfen, was sich zu ihrer positiven Überraschung sehr leicht gestaltete. „Das ging alles innerhalb von zwei Wochen“, erinnert sie sich. Die Anmeldung, die Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung und ein Visum für vorerst zwei Jahre wurden Pavlenko blitzschnell genehmigt und ausgehändigt. Das habe sie nicht erwartet, sagt Böhm. „Normalerweise ist das immer ein großer Aufwand. Dieses Mal ging es wirklich zügig.“

Kunden Fragen nach der Neuen

Vorerst war Nadyia Pavlenko mit ihrer ­Familie bei freiwilligen Helfern untergekommen. Inzwischen lebt sie mit ihrem Sohn in einer eigenen Wohnung. „Nadyia ist unglaublich dankbar und fügt sich hervorragend in den Betrieb ein“, sagt Böhm. Mittlerweile fragten Kunden bereits explizit nach einem Termin bei der neuen Kollegin. Sie sei immer freundlich und tue ihr Bestes, schnell Deutsch zu lernen. Zudem gebe es einen großen Zusammenhalt im Team. Alle Mitarbeiter unterstützen Pavlenko in ihren Möglichkeiten. Zudem sollte ihre ukrainische Ausbildung in Deutschland anerkannt werden, auch wenn die Ausbildung in der Ukraine nicht dual erfolgt, wie hier in Deutschland.

Die große Hilfsbereitschaft weiß Nadyia zu schätzen, die junge Ukrainerin hat gerade zu Beginn sehr viele Sachspenden von Kunden erhalten. Trotzdem sei sie oft besorgt, wenn sie die Nachrichten verfolge. Ihre Großeltern und ihr Bruder sind noch in der Ukraine und in potenzieller Lebensgefahr. „Wir sprechen bewusst nicht oft darüber“, erklärt Liudmila Böhm. „Wir versuchen, für sie da zu sein und sie mit allem zu unterstützen, was wir geben können.“

3. Neue Mitarbeiter machen neugierig

Martin Schlingmann, Schreinerei in Bad König
Martin Schlingmann, Schreinermeister und Geschäftsführer der gleichnamigen Schreinerei im hessischen Bad König. - © Bert Bostelmann

Dass sein Team aus mehreren Natio­nalitäten besteht, kam Schreinermeister Martin Schlingmann im vergangenen März zugute. Als er erfuhr, dass zwei junge Brüder aus der Ukraine über das Netzwerk einer freien Kirche im Odenwald Unterkunft und Arbeit suchten, fackelte er nicht lange. Er arrangierte ein Treffen und stellte die beiden Geflüchteten in seiner Schreinerei im südhessischen Bad König ein. „Meine Mitarbeiter begegneten den neuen Kollegen mit viel Neugier“, erzählt der Handwerkschef. Gegenseitig näherten sie sich an. Was bedeutet Hammer auf Ukrainisch? Wasserwaage?

Seine Mitarbeiter aus Polen halfen , einzelne Wörter und Sätze der Brüder Paul und Sergej aus dem Ukrainischen zu übersetzen, da sich beide Sprachen ähneln. „Die Zwei lernen aber auch sehr schnell Deutsch“, freut sich Schlingmann. Lachend fügt er an, dass Sprache im Handwerk überhaupt nicht so wichtig sei: „Man sieht den Kollegen einfach bei der Tätigkeit zu und macht sie nach.“ Die jungen Ukrainer bringen jedoch auch Berufserfahrung im Bereich Trockenbau, Malerarbeiten und Fliesenlegen mit. Ihr handwerkliches Wissen machte es Schlingmann umso leichter, die Ukrainer in sein Team zu integrieren. Für ein Gemeinschaftsgefühl und produktives Miteinander im Alltag entscheidet eben nicht die Herkunft, sondern die Persönlichkeit, findet der Schreiner. Natürlich sei auch viel Rücksicht gefragt. Die neuen Mitarbeiter wollten zwar keine Sonderbehandlung bei der Arbeit, aber ihre Lebenswirklichkeit ist aufgrund des Kriegs in ihrem Heimatland eine andere. Täglich möchten sie wissen, wie es der zurückgebliebenen Familie und ihren Freunden ergeht. Sorgen sich darum, wie es weitergeht.

Nötige Papiere im Handumdrehen

Eine Wohnung für die beiden Brüder hat sich über den Kollegenkreis rasch gefunden. Auch die nötigen Papiere, um ihnen die Arbeit im Handwerksbetrieb zu ermöglichen, lagen ein paar Telefonate später vor. Ein Gespräch mit dem Einwohnermeldeamt, weitere mit einem Krankenversicherer und dem Finanzamt – und alles war in die Wege geleitet. „Der Wille, den Menschen aus der Ukraine zu helfen und sie bei der Suche nach Arbeit zu unterstützen, ist überall da“, nennt Schlingmann den Grund, dass alles so reibungslos verlief. Die Geflüchteten wiederum suchen dem Arbeitgeber aus Bad König zufolge natürlich einen Broterwerb. „Aber auch eine sinnvolle Tätigkeit, die sie auf andere Gedanken bringt, als sich nur mit den Kriegsnachrichten zu beschäftigen.“

Überrascht hat den umsichtigen Handwerkschef, dass seine zwei Neu­zugänge so gut mit digitalen Technologien umgehen können. „Ihren neuen Kollegen stehen sie jedenfalls in nichts nach.“ Für den Zusammenhalt in seinem Betrieb bis hin zum kulturellen Austausch sieht er in den beiden Mitarbeitern eine „große Bereicherung“. Doch räumt er auch ein, dass er im 10.000-Einwohner-Städtchen oft mit Stirnrunzeln angeguckt wurde, Geflüchtete aufgenommen zu haben, die nicht fürs Vaterland kämpfen wollen. Schlingmann begegnet solchen Äußerungen gleichmütig: „Das ist die Privatsache meiner Angestellten.“

Ob Paul und Sergej für immer bleiben? Schlingmann, der auch in seiner Region nach Fachkräften für seinen ausgelasteten Betrieb sucht, weiß es nicht – aber würde es sich sehr wünschen.