Chance für den ländlichen Raum Dienstleistungsplattform vernetzt Gewerke im Odenwald: "Wir wollen die Region stärken!"

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Ausbildung, Digitalisierung, Fachkräftemangel, Kooperationen, Künstliche Intelligenz (KI, AI), Nachfolge, Plattform-Business, SHK-Handwerk und Zukunftsperspektiven im Handwerk

Was der eine nicht schafft, macht der andere: Die Vernetzung im ländlichen Raum stärken wollen Harald Buschmann und Martin Schlingmann von der Kreishandwerkerschaft Odenwald mit ihrer geplanten Dienstleistungsplattform.

Kreishandwerksmeister Martin ­Schlingmann (li.), Harald Buschmann
Kreishandwerksmeister Martin ­Schlingmann (li.) arbeitet gemeinsam mit Harald Buschmann, Geschäftsstellenleiter der Kreishandwerkerschaft Odenwald, an einem Dienstleistungszentrum für Handwerksfirmen. - © Tim Wegner
handwerk magazin: Ihr Projekt „Handwerkliche Dienstleistungen im länd­lichen Raum“ (HaDiL) hat sich bei der Ausschreibung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft durchgesetzt – und wenn es reüssiert, soll es sogar ein Modell für weitere Regionen sein. Mit welchen Plänen haben Sie überzeugt?

Martin Schlingmann: Im Pilotprojekt sehen wir eine große Chance für uns Handwerker, weiter voranzukommen. Dabei geht es darum, unsere wichtigsten Pro­bleme zu bewältigen, wie die Nachfolge­regelung und Mitarbeitergewinnung. Wir wollen auch die Zusammenarbeit aller Gewerke in der Region stärken, damit für die Menschen im Odenwald der größte Nutzen entsteht. Was sich ­Einwohner und Handwerker wünschen, das bringen wir derzeit auf unserer neuen Plattform dienstleistungszentrum-handwerk.de über detaillierte Fragebögen in Erfahrung. Aufgrund dieser Datenbasis werden wir anschließend gemeinsam mit unseren Partnern S3-Medien und dem ­Institut für Betriebsführung im DHI und den beteiligten Handwerksbetrieben Konzepte erarbeiten.

Worin liegen die Vorteile für Betriebe, die sich am Projekt beteiligen?

Schlingmann: Die Betriebe haben das Problem, dass ihre Azubis für die schulische Ausbildung kilometerweit in die umliegenden Städte fahren müssen. Mit unserem Projekt wollen wir die Region stärken und damit dafür sorgen, dass solche Fahrten vielleicht bald überflüssig werden. Ein Erfolgsbeispiel ist die Tischler- und Glaser-Innung im Odenwaldkreis: Als einzige Innung hat sie es geschafft, die überbetriebliche Ausbildung komplett in den Odenwald zu holen. Die Lehrlinge sparen sich die langen Fahrten und sind noch dazu viel besser untereinander vernetzt als vorher.

Über solche Schritte wollen wir mehr Menschen dafür begeistern, im Handwerk zu arbeiten. Denn in diesen Berufen gibt es viel mehr zu tun, als die derzeit vorhandenen Mitarbeiter in den Betrieben leisten können. Viele unserer Metzger und Bäcker haben sogar schon ihre Öffnungszeiten beschränkt, da sie zu wenig Personal zur Verfügung haben. Die Gewerke im Bau und Ausbau wiederum, die von Anfragen nur so überrollt werden, plagen sich mit der Entscheidung, welchen Job sie noch erledigen können und wem sie absagen müssen. Wir wollen ihnen dabei helfen, ihre Arbeit so zu organisieren, dass sie wieder Spaß macht.

Wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Schlingmann: Indem wir das Handwerk in unserer Region wieder sichtbarer machen – in der Gesellschaft, bei Lehrern und vor allem auch bei Eltern von jungen Menschen. Viele glauben, dass die Berufe im Handwerk wenig verdienstvoll und kräftezehrend sind. Im Gegensatz zum Studium an Universitäten haben sie schlichtweg ein schlechtes Image. Unsere Aufgabe ist es, allen, aber insbesondere auch den jungen Menschen, zu zeigen, wie das Arbeiten in einer Schreinerei oder Bäckerei genau aussieht. Wie es gelingt, ein Brett zu sägen, eine Maschine zu bedienen oder ein Brot herzustellen. Wenn wir die Menschen in der Region berühren können, bekommen wir auch wieder mehr Werthaltigkeit und sorgen dafür, dass das Handwerk nicht als Zweite-Klasse-Ausbildung betrachtet wird. Im Gegenteil: Das Handwerk stiftet Sinn, sogar Lebenssinn, denn es ist dafür da, das Leben zu gestalten. Die Handwerker selbst sind ebenfalls dabei gefragt, sich ihren Arbeitsalltag leichter zu gestalten: Keiner muss rund um die Uhr arbeiten, denn es gibt Technologien, die helfen, die Arbeit zu bewältigen, und Strategien, um die Nachfolge beizeiten zu regeln. Dieses Wissen möchten wir im fortlaufenden Prozess erarbeiten und teilen, indem wir gerne auch alle Betriebe jenseits der Innungsgrenzen im Odenwald mitnehmen.

Harald Buschmann: Unsere Handwerker sind das Gesicht der Region, die Menschen vor Ort in kleineren Betrieben, die oft mit ihrer gesamten Familie für die Bevölkerung da sind. Häufig sind sie engagiert in Vereinen und Beiräten, wo sie die Gesellschaft im Odenwald mitgestalten. Sie bleiben der Region erhalten. Ob die Studierenden zurückkommen, ist eher ungewiss – die Handwerker bleiben.

Wie sieht die aktuelle Situation der ansässigen Betriebe während der Coronapandemie aus?

Buschmann: Die vielen kleinen Handwerksbetriebe im Odenwald – das sind mehr als 90 Prozent – sind in der Tat voll ausgelastet. Während der Coronapandemie haben sie sehr viel Dankbarkeit erfahren. Als Teil der kritischen Infrastruktur sind sie diejenigen, die den Menschen tagtäglich helfen, ihre Grundversorgung mit täglichen Notwendigkeiten zu bekommen. Denn was ist, wenn das Wasser nicht mehr läuft, die Heizung nicht funktioniert und kein Fleisch oder Backwaren mehr produziert werden? Für sich selbst haben die Betriebe seit der Pandemie ein breiteres Kundenspektrum erarbeitet, was sie unabhängiger von großen Auftraggebern macht, denen sie ein Stück weit ausgeliefert waren. Zu viel Zentralisierung und Spezialisierung lässt zudem den direkten Kontakt von Mensch zu Mensch verkümmern.

Als Dienstleistungszentrum wollen Sie den Betrieben auch mit Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und Smart Services unter die Arme greifen. Wie steht das im Kontext eines menschlichen Miteinander?

Buschmann: Aus unserer Sicht ist es der falsche Weg, alles zu digitalisieren – denn das führt zur Entfremdung. Uns geht es vielmehr darum, Technologie als Werkzeug einzusetzen, um effizienter zu arbeiten und zu kommunizieren. Wenn sich digitale Tools so gebrauchen lassen, dass sie helfen, Kontakte zu pflegen und mehr Zeit mit der Familie und Freunden zu verbringen, anstatt die Kräfte komplett in Arbeit aufzubrauchen, dann sind sie sinnvoll. Über unsere Plattform können wir dabei helfen, Kunden mit den richtigen Handwerkern zusammenzubringen. Wer etwa sein Bad renovieren möchte, benötigt Fachkräfte verschiedener Gewerke, die bisher nicht untereinander kommunizieren. Wenn der Kunde selbst zum Bauleiter wird und die einzelnen Betriebe aber nur nach Preis auswählt anstatt nach der gesamthandwerklichen Leistung, kann das schnell in Chaos münden. Wir helfen dem Kunden als Vermittler dabei, ihm ein Topergebnis zu bescheren. Solche Beispiele machen dann Schule.

Schlingmann: Die Auswahl nach preislichen Kriterien macht auch das Handwerk kaputt. Diese Entwicklung sieht man bei öffentlichen Ausschreibungen: Unter einer Handvoll Bewerbungen erhält der günstigste Anbieter den Zuschlag – mit der Folge, dass er nicht auskömmlich damit zurechtkommt. Bei den aktuell geringen Kapazitäten führt es letztlich dazu, dass sich kaum noch Betriebe bewerben. Die Ausschreibungspolitik geht deshalb nicht mehr lange gut. Wir im Kreishandwerk könnten das fair regeln und dafür sorgen, dass sich ein Betrieb des Projekts annimmt – zu einem seriösen Preis.

Zurück zur Technologie: Wie kann zum Beispiel eine KI für noch mehr Entspannung in den Betrieben sorgen?

Schlingmann: Für die meisten besteht das größte Problem darin, dass das Telefon klingelt. Die Lösung könnte darin bestehen, das Telefon ins Dienstleistungszen­trum umzustellen, wo der Kunde eine erste Auskunft zu seinem Anliegen bekommt. Eine andere Möglichkeit ist es, einen intelligenten Chatbot auf der Website zu verankern, der die wichtigsten Fragen beantworten kann. Mit der zunehmenden Konkurrenz anderer Wettbewerber sind solche automatisierten Services entscheidend. Die Kunden gehen sonst dazu über, ihr Bad bei Amazon zu bestellen, weil es dort sehr viel schneller geht. In einem solchen Szenario würde es für Handwerksbetriebe überlebenswichtig werden, ob sie bei diesem globalen Marktplatz gelistet sind oder nicht.

Über Vernetzung in der Region gilt es auch nationalen und globalen Konkurrenten Paroli zu bieten?

Schlingmann: In diesem neuen Miteinander in der Region, das wir anstreben, liegt viel Potenzial. Wenn wir es hinbekommen, dass sich die Handwerker über einzelne Gewerke hinweg gegenseitig kennenlernen und zusammenarbeiten, können sie gemeinsam viel auf die Beine stellen. Ein ansässiger Metzger will beispielsweise sein Catering canceln, da es ihm zu viel Zeit am Wochenende raubt. Vielleicht findet sich ein anderer Betrieb, der dieses Geschäftsfeld mit bearbeiten möchte und bei der Auslieferung helfen kann? Auch bei der Nachfolge oder Fachkräftesuche können wir unterstützen: In vielen Betrieben werden die Leistungs­träger in ein paar Jahren nicht mehr da sein. Über eine Jobbörse auf unserer Plattform können wir helfen, die richtigen Leute kurz- oder langfristig zu vermitteln. Die Gemeinschaften, die nebenbei über Vernetzung von Metzgern, Schreinern, Friseuren und SHK-Handwerkern entstehen, halten meist ein Leben lang und sie haben einen positiven Effekt auf die Region insgesamt.

Buschmann: Während die städtischen Räume immer dichter und teurer werden, gibt es auf dem Land noch viele unausgeschöpfte Chancen, die wir gemeinsam erschließen wollen. Die Menschen sollen ihre Region über unser Projekt neu für sich entdecken und über die Digitalisierung mehr Lebensqualität erfahren. So sorgen digitale Technologien dafür, dass viele Fahrten unnötig werden und mehr Zeit für Familie und Freunde frei wird. Wir wollen Zukunftsräume gestalten, die auch für junge Leute und Geflüchtete eine dauerhafte Perspektive bieten.

Wie messen Sie den Erfolg des Projekts nach den ersten zweieinhalb Jahren, solange die Förderung läuft? Diese Bewertung ist ja letztlich auch wichtig, um das Projekt weiterzuführen und ein Modell für andere Regionen abzuleiten.

Buschmann: Am Ende zählt, wie viele Betriebe sich am Projekt beteiligen. Finanziell über einen kleinen Beitrag, aber auch bereit dafür sind, ihre Zeit in Workshops darauf zu verwenden, Ideen zu Aus- und Weiterbildung und Kooperationen zu finden und weiter zu treiben.

Schlingmann: Ich würde es schon als Erfolg werten, wenn die Handwerkschefs neuen Möglichkeiten gegenüber offen sind. Zu den messbaren Erfolgen zählt sicherlich, wenn Betriebschefs über das Projekt tatsächlich Nachfolger finden und es uns gelingt, Jugendliche zu begeistern. Der Leidensdruck für diese Themen ist in den Betrieben vorhanden: Viele unserer Handwerksbetriebe möchten nicht mehr so weitermachen wie bisher. Eines ist daher klar: Das Handwerk wird in 20 Jahren anders aussehen als heute.

Projektsteckbrief HaDiL: Partner und Förderer

Das Projekt „Handwerkliche Dienstleistungen im ländlichen Raum“ (HaDiL) wird im Rahmen des Förderprogramms „Ländliche Entwicklung“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert. Überzeugt hat das Vorhaben mit innovativen Ansätzen, um ländliche Regionen in der Modellregion Odenwald als attraktive, lebenswerte und vitale Lebensräume zu erhalten und noch weiter zu stärken.

Für dieses Ziel stellt HaDiL eine Plattform als handwerkliches Dienstleistungszentrum zur Verfügung. Projektpartner sind das Institut für Betriebsführung im DHI e.V. (itb) in Karlsruhe, das IT-Unternehmen S3-Medien in Rutesheim und die Kreishandwerkerschaft Odenwaldkreis als Handwerksorganisation im ländlichen Raum und als lokaler Anwendungspartner.

Vita: Harald Buschmann

Bevor Harald Buschmann 2019 Geschäftsstellenleiter der Kreishandwerkerschaft Odenwaldkreis wurde, war er 18 Jahre lang Bürgermeister in Erbach im Odenwald. Der studierte Theologe ist in der Region tief verwurzelt: Von 1993 an arbeitete der heute 59-Jährige zunächst drei Jahre als Gemeindepfarrer in Weiterstadt, dann bis zum Jahr 2000 in Erbach, wo er mit seiner Frau noch heute wohnt.

Vita: Martin Schlingmann

Seit 2021 ist Martin Schlingmann Kreishandwerksmeister der Kreishandwerkerschaft Odenwald und Vorstandsmitglied der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main. Nach seiner Meisterprüfung als Tischler 1987 hatte der 59-Jährige zunächst einen Lehrauftrag an der Meisterschule in Darmstadt, bevor er 1998 seine eigene Schreinerei in Bad König im Odenwald gründete. Schlingmann war bis 2021 zudem Obermeister der Tischler-Innung.