Storytelling über Geschichte Preis für Handwerksgeschichte 2024: Mehr Aufmerksamkeit für die Historie des Handwerks schaffen

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And the winner is …: Der ZDH hatte erstmals den Preis für Handwerksgeschichte ausgelobt. Diese vier Projekte standen am 31. Januar 2024 bei der Preisverleihung im Rampenlicht.

Wie tickte die Innung damals? Die Festschrift zeichnet ein buntes Bild – in gut verständlicher Sprache.
Wie tickte die Innung damals? Die Festschrift zeichnet ein buntes Bild – in gut verständlicher Sprache. - © Innung SHK Berlin

Wo kommen wir eigentlich her? Wer 400 Jahre Innungsgeschichte professionell aufbereiten möchte, der muss sich nicht nur durch zeitgenössische Fachzeitschriften und Unternehmer-Nachlässe wühlen, sondern der findet auch historische Quellen im Heizungskeller. So erzählt es Dr. Stephanie Irrgang, PR-Chefin der Innung SHK Berlin. „Mich hat schon beeindruckt, wie viele Quellen noch vorhanden sind.“

1. Festschrift "400 Jahre Innung SHK Berlin"

Die studierte Historikerin spielt auf die wechselvolle Geschichte Berlins an, die in der Festschrift „400 Jahre Innung SHK Berlin“ hervorragend festgehalten und die dafür jetzt mit dem „Preis für Handwerksgeschichte“ ausgezeichnet wurde. Trotz Bombenhagel, den Wirrungen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Teilung konnten Irrgang und ihr Team den großen Bogen spannen – von der 1617 erfolgten Gründung der „Klempner-Innung in Berlin und Cölln“ und der Verarbeitung verzinnten Weißbleches am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges bis hin zu einem modernen Dienstleistungsverband, der sich heute natürlich auch mit den Trendthemen Wärmewende, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) beschäftigt. Rund 620 SHK-Betriebe mit mehr als 5.000 Erwerbstätigen und 1.300 Auszubildenden vertritt die Innung heute.

„Ziel der Festschrift war eine kritische Bestandsaufnahme und Einordnung von Fakten und Veränderungen über die Jahrzehnte, die Bewusstwerdung unserer Geschichte und unserer Traditionen“, erinnert sich Obermeister Andreas Schuh. Im Herbst 2015 ging es mit den Recherchen los, die bis ins Frühjahr 2017 dauerten. Ganz wichtig sei dabei im Jubiläumsjahr der Dreiklang aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewesen, so Irrgang. Also mit dem Blick zurück das Morgen gestalten. „Wir haben unsere Festschrift in dem Bewusstsein erarbeitet, dass Zukunft nur entstehen kann, wenn man seine Geschichte ernst nimmt, sie weitererzählt und die Gegenwart im Lichte dessen strategisch und sensibel gestaltet.“

Verantwortung übernehmen und drittes Reich aufarbeiten

Die Festschrift, die laut Irrgang auf viel positive Resonanz bei Innungsbetrieben, in der Öffentlichkeit und den Medien gestoßen ist und in einer Auflage von 1.500 Exemplaren gedruckt wurde, war damals der nachhaltigste Baustein des Jubiläumsjahres. Und auch ein kritischer. So arbeitete die Innung SHK Berlin bewusst die Zeit des Dritten Reiches auf – und übernahm somit Verantwortung. „Wir wollten damals nicht nur begeistert zurückblicken“, betont Irrgang. So heißt es auch im Festschrifttext: „Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte war auch ein dunkles Kapitel der Innung.“ Die willfährige Gleichschaltung, die Durchsetzung des Führerprinzips ohne Zwang oder die Liquidierung der jüdischen Handwerksbetriebe – das alles lässt sich in der sehr gut lesbaren Festschrift nachlesen. Auch das tragische Schicksal des jüdischen Klempnermeisters Ludwig Sabat findet sich hier wieder, das exemplarisch für die ehemaligen jüdischen Innungsmitglieder steht. Zudem wurde auch die Situation in Ost-Berlin während der deutschen Teilung aufgearbeitet.

2. Sechs Jahrtausende Seilergeschichte

Wie hat sich das Handwerk entwickelt? Bernhard Muffler mit seiner Tochter Sophie vor seinem Museum.
Wie hat sich das Handwerk entwickelt? Bernhard Muffler mit seiner Tochter Sophie vor seinem Museum. - © muffler/privat

"Irgendwann werde ich ein Museum eröffnen.“ Das hatte sich Bernhard Muffler viele Jahre vorgenommen. Seine Ausbildung zum Seiler bestand er 1982 im Familienbetrieb bei seinem Vater, sieben Jahre später folgte die erfolgreiche Meisterprüfung. Der 61-Jährige kann also auf eine lange Seiler-Familientradition zurückblicken, die Seilerei besteht bereits seit 1879. Auch das ist Teil seines Seilermuseums in Stockach am Bodensee.

„Ich lebe mit meiner Familie im alten Seilerhaus.“ Dort hat Muffler auch viele seiner jetzigen Ausstellungsstücke gefunden: „Die Vorgänger haben nie etwas weggeworfen, sondern es immer nur abgestellt. So habe ich alte Geräte und Maschinen wie Hecheln, Schwungbretter und Schwungböcke gefunden.“ Diese restaurierte der Seiler in vierter Generation, befreite sie von Holzwürmern und stellte sie dann in sein Museum. 2016 öffneten sich die Museumstüren zum ersten Mal. „Das war ein ganz besonderer Moment. Eigentlich hatte ich das erst viel später geplant, aber mit den richtigen Partnern kam eins zum anderen und es war ein einmaliges Erlebnis“, berichtet Muffler.

Beitrag zum kulturellen Leben in Stockach

Sein Museum erzählt die Seilergeschichte von sechs Jahrtausenden. Der Seilermeister erklärt: „Unsere Ausstellung beginnt in der Jungsteinzeit, knapp 4.000 vor Christus. Früher gab es hier am Bodensee Pfahlbausiedlungen, in denen Schnüre aus Lindenbast zum Beispiel für Tierfangnetze verwendet wurden.“

Das Seilermuseum Stockach leiste einen Beitrag zum kulturellen Leben in Stockach und zeige die Bedeutung des Handwerks für den ländlichen Raum, schreibt die Jury des Preises für Handwerksgeschichte 2024 über das Werk von Bernhard Muffler. Das engagierte Museumsprojekt werde für Initiative, Aufbau, Unterhalt, Betrieb und kontinuierliche Weiterentwicklung ausgezeichnet.

Zeitreise mit Besuchern erleben
Was gibt es im Seilermuseum zu sehen? Die Ausstellung beginnt in der Jungsteinzeit, knapp 4.000 vor Christus. Die Bewohner der Pfahlbausiedlungen nutzten Schnüre aus Lindenbast für Tierfangnetze.
Im Seilermuseum - © privat

Eine weitere Besonderheit: Die Besucher können gemeinsam mit Muffler ein Seil herstellen. Zu fünft wird die Arbeitsprobe gefertigt, hierbei ist Teamwork gefragt. Jeder habe seine Aufgabe, erklärt der Seiler: „Einer muss die Leere mitführen, einer sorgt für die Drehung, dann muss noch für den Ballast und die Kraft gesorgt werden.“ Die Seile werden aufgespannt und mit einem alten Warbelgeschirr wird gedreht. Am Ende verstehe jeder, wie ein Seil funktioniert, und die Besucher seien oft verblüfft, wie das Seil unter Spannung steht. Ein bis zwei Führungen begleitet Muffler etwa pro Woche, „es ist immer noch meine Leidenschaft, diese Zeitreise mit den Besuchern zu erleben, und nicht meine Hauptberufung.“ Mittlerweile gibt es zusätzlich einen Audioguide, der in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Stockach angeboten wird.

Über den Preisgewinn habe er sich sehr gefreut. Als er gerade in der Seilerei arbeitete, kam eine E-Mail vom Zentralverband des Deutschen Handwerks – er hatte gewonnen. „Ich war perplex, begeistert und habe sofort meine Tochter gerufen, die in der Seilerei arbeitet und diese auch zusammen mit ihrer Schwester in der fünften Generation weiterführen möchte“, erzählt Muffler. Beide hätten direkt die andere Tochter angerufen und es ihr erzählt: „Sie ist momentan auf Weltreise, also haben wir sie aus dem Bett geklingelt und ihr erzählt, was gerade abgeht.“

3. Backen unterm Hakenkreuz

Welche weißen Flecken hat die Familiengeschichte? Bäckermeister Georg Hench ging der Frage nach.
Welche weißen Flecken hat die Familiengeschichte? Bäckermeister Georg Hench ging der Frage nach. - © privat

Bäckermeister Georg Hench aus ­Mainaschaff war stets interessiert an Familiengeschichte. Die Geschichte seiner Bäckerei reicht ins Jahr 1887 zurück – ein angesehener Betrieb, mehrfach mit dem bayerischen Staats­ehrenpreis ausgezeichnet. Eines Tages bekam er ein Dokument aus den 1930er-Jahren zu Gesicht, das Henchs Interesse weckte. „Ich habe weiße Flecken in der Zeit des Nationalsozialismus entdeckt und wollte mehr in Erfahrung bringen über die politischen Aktivitäten des Urgroß­vaters und Großvaters.“

Hench stellte sich diesem dunklen Geschichtskapitel und fand Mitstreiter, die ihn dabei unterstützten, die Quellen aufzuarbeiten. „In den Unterlagen tauchte der Urgroßvater als führende Persönlichkeit im Rahmen der Gleichschaltung auf.“ Am Ende der Nachforschung stand das Buch „Backen unterm Hakenkreuz“. Es zeigt eindringlich, wie auch normale Handwerker zum Aufstieg des Nationalsozialismus beitrugen.

Beispielhafte Initiative

Die Jury des ZDH-Geschichtspreises lobt die „beispielhafte Initiative und Mitwirkung bei der Edition von Innungsquellen aus der Zeit des Nationalsozialismus“. In Zusammenarbeit mit der Fachwissenschaft sei es gelungen, den Stellenwert von Innungsquellen herauszustellen für das Verständnis der Alltagsgeschichte sowie der Täter- und Opfergeschichte.

An der Forschungsarbeit wirkte ein Kreis von Interessenten mit. „Irgendwie haben wir uns gesucht und gefunden“, sagt Hench. Sein Verwandter Klaus Hench machte mit. Der Historiker Prof. Frank Jacob begleitete die Arbeit wissenschaftlich. Die Bäckerinnung und der Leiter des Stadtarchivs Joachim Kemper unterstützten das Vorhaben.

Die Geschichte des dritten Reichs aus einem lokalen Blickwinkel
Wie ist der lokale Blick auf die NS-Zeit? Eine Aufnahme der Bäckerinnung aus dem Jahr 1933.
Wie ist der lokale Blick auf die NS-Zeit? Eine Aufnahme der Bäckerinnung aus dem Jahr 1933. - © privat

Zwei wertvolle Quellen wurden erschlossen: ein „Jubiläumsbuch“, das 1930 begonnen wurde und Hitler und der ­NSDAP gegenüber sehr positiv gestimmt war. Deshalb war es möglicherweise auch verschwunden nach dem Zweiten Weltkrieg, vermutet Georg Hench. Und dann gab es das ab 1932 geführte „Protokollbuch“. „Eine Hauptaufgabe bei Quellen aus dieser Zeit besteht neben der Interpretation zunächst auch darin, die Sütterlin-Schrift zu entziffern“, sagt Joachim Kemper. Um diese „Übersetzungsarbeit“ kümmerte sich Henchs Onkel. Kemper sieht einen Vorteil der ausgewerteten Quellen: „Sie wurden nicht für die Nachwelt geschrieben.“ Er spricht von einer guten Quelle, „um den Leuten von damals in die Köpfe zu schauen“.

Prof. Jacob half dabei, die Notizen historisch einzuordnen. Die Arbeit folgt dabei einem wichtigen Trend in der Forschung: Verstärkt wird inzwischen die Geschichte des Dritten Reichs aus einem lokalen Blickwinkel betrachtet. Nicht die große Politik in Ministerien und Verbänden wird beleuchtet, sondern die Geschichte vor Ort. Die Arbeit sei damit ein „wertvoller Baustein für die Geschichte der Handwerker im Dritten Reich“, sagt Kemper. Bäckermeister Hench hofft, dass sich andere Innungen und Gewerke das Buch zum Vorbild nehmen: „Die Aufklärung über diese Zeit ist dringend notwendig. Das geht jetzt auch, weil die Beteiligten und maßgeblichen handelnden Personen lange verstorben sind.“ Vielleicht finden sich ja bei dem einen oder anderen Obermeister noch alte Protokollbücher, die für die Nachwelt erschlossen werden.

4. Auf dem Jugendstil-Fauteuil Platz nehmen

Wie saß man in der Renaissance? Stefan Oswald gab mit seinen Kolleginnen und Kollegen Antworten.
Wie saß man in der Renaissance? Stefan Oswald gab mit seinen Kolleginnen und Kollegen Antworten. - © Stefan Oswald

Hier den thronähnlichen Jugendstilfauteuil testen, da die Flachs- und Getreidehalme des Schichtmodell-Barockstuhls inspizieren und sich dort intensiv über den Polsteraufbau des klassizistischen Buchenholzstuhls informieren. Dank der Sonderausstellung „Besessen. Die geheime Kunst des Polsterns“ konnten Interessierte zwischen November 2022 und März 2023 über 100 Sitzmöbel und deren Innenleben im Leipziger Grassi Museum für angewandte Kunst hautnah erleben – und so das Raumausstatter-Handwerk der letzten 400 Jahre besser kennenlernen.

„Die Idee ist in unserer Fachgruppe entstanden“, berichtet sichtlich stolz Stefan Oswald, Vorstand und Fachbereichsleiter Raumausstatter, Fachgruppe Restauratoren im Handwerk, während des Videocalls. „Uns war von Anfang an wichtig, dass die Besucher auch auf den Polstermöbeln sitzen können.“ Reinhardt Roßberg, Polsterer und Restaurator aus Markkleeberg, sei die treibende Kraft hinter dieser Kultur- und Materialgeschichte des Polsterns gewesen – und hätte bis zum Ausstellungsstart nicht mehr locker gelassen.

Bühne fürs "epochentypische Polstern"

Mit ihrer ersten Idee 2016, den Fokus auf das Innenleben der Stühle und Sessel zu legen, und ihrem Know-how aus der Praxis schufen die Restauratoren im Handwerk eine Bühne fürs „epochentypische Polstern“, wie es Oswald nennt – und machten damit Lust aufs Raumausstatter-Handwerk, das sich somit übrigens auch von seiner nachhaltigen Seite zeigen konnte.

Grund genug für die Fachjury des „Preis für Handwerksgeschichte 2024“ eine besondere Erwähnung für handwerksgeschichtliches Engagement zu vergeben. Die drei Jahre Vorbereitung, die vielen Arbeitsstunden für Schichtmodelle und Rekonstruktionen und die Suche nach dem passenden Kurator und dem musealen Partner haben sich also gelohnt.

Interdisziplinäres Zusammenwirken aller Beteiligten
Mehr als 20.000 Besucher lernten das epochentypische Polstern kennen.
Mehr als 20.000 Besucher lernten das epochentypische Polstern kennen. - © Juliane Rückriem

Die besonderen Stärken des Projekts laut Oswald: das interdisziplinäre Zusammenwirken aller Beteiligten und die vielen Sonderführungen. Was befindet sich denn nun unter dem Bezugstoff eines Barockstuhls? Wie saßen Fürsten in der Renaissance? Oder taugte das Chamber Horse aus dem späten 18. Jahrhundert wirklich als Fitnessgerät?

Mehr als 20.000 Besucher gingen diesen oder ähnlichen Fragen in Leipzig nach. Oder sie machten sich im speziell konzipierten Klangtunnel mit den klassischen Arbeits- und Nutzgeräuschen des Polsterhandwerks vertraut. Fachleute und Nichtfachleute, Handwerker, Produzierende und private Nutzer, Groß und Klein, Alt und Jung hätten erfahren, wie faszinierend und vielschichtig die Welt dieses Handwerks ist, erklärte Kurator Dr.-Ing. Thomas Schriefers.„ Unser Wunsch war es, auch den Nachwuchs aus dem Handwerk in die Ausstellung zu bekommen“, so Oswald. „Das haben wir geschafft.“