Interview mit Markus Wente Positionspapier der IG Metall: "Tarifverträge im Handwerk sind ein Wettbewerbsvorteil!"

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Arbeitszeit und Arbeitszeitmodelle, Ausbildung, Fachkräftemangel, Lohn- und Gehalts-Check, Mindestlohn und Zukunftsperspektiven im Handwerk

Vom Tarifvertrag bis zur Vier-Tage-Woche: Die IG Metall Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt hat ein Positionspapier zur tarifpolitischen Zukunft im Handwerk, das handwerk magazin exklusiv vorliegt, verfasst. Ein Gespräch mit Markus Wente, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

Markus Wente betont: "Seit den 1990er-Jahren hat sich die Industrie beim Lohn weiterentwickelt und vom Handwerk entfernt. Es gibt also Nachholbedarf!" - © Marcus Biewener/Agentur Biewener & Kolb
Herr Wente, Sie haben fünf Punkte zur tarifpolitischen Zukunft im Handwerk vorgelegt. Warum ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt dafür?

Wente: Wir erleben im Handwerk derzeit einen Umbruch. Auf der einen Seite haben wir volle Auftragsbücher und die Mammutaufgabe, die Klimaziele zu erfüllen. Und auf der anderen Seite suchen die Betriebe händeringend nach Fachkräften. Ich erlebe es in vielen Bereichen, dass Kunden- und Auftragsmangel – trotz eines gewissen Einbruchs im Bauhauptgewerbe – immer noch kein Problem sind. Die größte Herausforderung ist aktuell die Fachkräftesuche. Zur Erinnerung: In einem schrumpfenden Arbeitsmarkt ist die Suche nach Fachkräften und Auszubildenden einer der wichtigsten Punkte. Gerade in so einer Situation und dem großen Transformationsprozess haben wir als Gewerkschaft den Anspruch, die Arbeits- und Lebensbedingungen aktiv zu gestalten. Jetzt ist genau die richtige Zeit, hier einzusteigen. Wann, wenn nicht jetzt!

Als IG Metall wollen Sie sich geschlossen dafür einsetzen, dass das Handwerk eine gute Zukunft hat. Auf welchen Ihrer Lösungsansätze sind Sie besonders stolz?

Wir Gewerkschaften sind ja schon immer die Interessensvertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewesen – insbesondere auch im Handwerk. Zuallererst mit guten tariflichen Bedingungen: Mit vielen Innungen und Landesinnungsverbänden haben wir gute und langfristige Partnerschaften. Das wollen wir auch so fortsetzen. Ein Projekt möchte ich ganz besonders hervorheben, das wir in Niedersachsen mit einer Landesinnung voranbringen: einen Tarifvertrag zum Abbau von Benachteiligungen und Gleichstellung der Geschlechter. Freistellungen für die Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen, die garantierte Karriereplanung trotz Familienzuwachs oder die Vier-Tage-Woche – unter anderem diese Punkte soll der Tarifvertrag zukünftig regeln. Aus meiner Sicht ist das ein Leuchtturmprojekt für ganz Deutschland!

Sehen wir uns drei Eckpunkte genauer an, zunächst die tarifpolitischen Arbeitsbedingungen. Wie können Chefinnen und Chefs ihre Betriebe dadurch attraktiver machen? Müssen Betriebe mehr Lohn zahlen?

Nur mehr Lohn, das wird es nicht richten. Auf einen Punkt möchte ich hinweisen: Bis etwa in die 1990er-Jahre hinein waren die Einkommen in der Industrie und im Handwerk gleich hoch. Seit dieser Zeit hat sich die Industrie weiterentwickelt und vom Handwerk entfernt. Es gibt also Nachholbedarf! Nichtsdestotrotz dürfen wir nicht vergessen, dass wir in vielen Handwerksbereichen schon Industrielöhne haben, beispielsweise im Sanitärbereich.

Was kann man noch in Sachen Attraktivität machen?

Es geht heute viel mehr um die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die Frage nach der Arbeitszeit. Hier geht es beispielsweise um das Modell der Vier-Tage-Woche. Was dabei übrigens nicht funktionieren kann, ist, einfach die Arbeitszeit auf vier Tage zu komprimieren. Es braucht eine teilweise Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohnausgleich. Das macht es dann attraktiv! Zudem muss man das Thema Tarifvertrag nach vorne stellen, der viele der angesprochenen Punkte regelt. Ganz klar: Tarifverträge sind ein Wettbewerbsvorteil!

Die Vier-Tage-Woche polarisiert auch im Handwerk stark. Wie kann es gelingen, dass diese Diskussion wieder ein bisschen heruntergekocht wird?

Wer bei sich die Vier-Tage-Woche einführen möchte, der muss zunächst seinen kompletten Betrieb umkrempeln. Jede Organisation, jede Tätigkeit muss überdacht, die Beschäftigten müssen von Anfang an eingebunden und es müssen Ängste abgebaut werden. Zudem darf keine Überlastung stattfinden. Hier müssen wir stark aufklären, denn die Vier-Tage-Woche kann ein Magnet für Fachkräfte sein – viele Betriebe werben ja auch damit. Generell finde ich: Wir müssen uns doch heutzutage mehr damit beschäftigen, was die Jugend will – und die wünscht sich eben solche Modelle.

Sie gehen sogar so weit, dass sich dadurch Fachkräfte aus der Industrie zurückgewinnen lassen.

Neben dem Thema Lohn und Gehalt ist das Thema Mitbestimmung einer der wichtigsten Punkte. Wir erleben es im Handwerk immer wieder, dass Unternehmer zurückschrecken, wenn das Thema Betriebsrat, also echte Mitbestimmung aufkommt. Die möchten viele Mitarbeitende aber nicht verlieren, wenn sie ins Handwerk wechseln.

Ihr zweiter Punkt: die viel diskutierte Zuwanderung und Integration Geflüchteter. Sie sehen hier eine große Chance fürs Handwerk, richtig?

Das Handwerk ist traditionell einer der größten Integrationsmotoren, die wir in Deutschland haben. Die familiären Strukturen führen dazu, dass der Beschäftigte nicht nur eine Nummer, sondern Teil der Familie ist. Deshalb legen Unternehmer hier auch viel Wert darauf, den Beschäftigten zusätzlich noch in der Gemeinde, in den Vereinen zu integrieren. Uns geht es aber auch um die Einwanderung generell: Wir sehen sie als große Chance – in einem Arbeitsmarkt, der demografisch immer kleiner wird. Und diese Chance dürfen wir nicht liegen lassen, es wäre fahrlässig, dieses Feld der Industrie zu überlassen. Wichtig: Für Betriebe mit Tarifbindung bietet sich dank des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz insbesondere diese Chance.

Der dritte spannende Punkt ist die Einstiegsqualifizierung. Wie sollten junge Menschen gefördert werden, damit sie später als Fachkräfte zur Verfügung stehen?

Jedes Jahr verlassen in Deutschland sechs Prozent der Schulabgängerinnen und -gänger die Schule ohne Abschluss. Sie starten also mit einer sehr überschaubaren Perspektive in die Gesellschaft. Das können wir uns in einem rückläufigen Arbeitsmarkt einfach nicht leisten. Ich glaube, Handwerksunternehmerinnen und -unternehmer haben schon immer eine hohe soziale Verantwortung bewiesen. Die öffentlich geförderte Einstiegsqualifizierung bietet ihnen die Möglichkeit, die schulischen und sozialen Defizite der jungen Menschen abzubauen und sie zur Ausbildungsreife zu bringen. In manchen Gewerken gibt es übrigens schon Tarifverträge zur Einstiegsqualifizierung.

Hand aufs Herz: Welcher Lösungsansatz aus Ihrem Positionspapier dürfte im Handwerk am meisten polarisieren?

Wenn es um das Thema Ausbildung geht, erlebe ich in den Verhandlungen immer wieder, dass es zu Stimmungsschwankungen auf der Gegenseite kommt. Unsere Positionen gehen schon sehr stark in Richtung Ausbildung und Qualifizierung. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer sehen Auszubildende leider immer noch als Kostenfaktor – gerade im ersten und zweiten Ausbildungsjahr. Ich glaube aber, dass man das als Chance verstehen muss. Wer nicht ausbildet, darf sich auch nicht über den Fachkräftemangel beschweren. Wenn wir als Gewerkschaft jetzt nach vorne gehen, könnte dies durchaus zu konträren Meinungen führen.

Um diese 5 Punkte geht es im Positionspapier:

  1. Gewinnung von Fachkräften und Erschließung neuer und klassischer Zielgruppen durch attraktive tarifliche Arbeitsbedingungen und proaktive Karriereplanung
  2. Aktivierung digitaler Potenziale im Handwerk 4.0
  3. Zuwanderung und Integration Geflüchteter als Chance für das Handwerk verstehen
  4. Förderung der Potenziale junger Menschen durch Einstiegsqualifizierung und Gewinnung von Fachkräften von morgen
  5. Abbau von Vorurteilen und Stärkung der Berufsorientierung in den Schulen durch Ausbildungsbotschafter