Diskussion "halb voll, halb leer" Börse 2023: Langfristiger Aufwärtstrend oder doch nur heiße Luft?

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Ein Markt, zwei Experten - und zwei sehr gegensätzliche Meinungen: Wir haben Tim Galler vom Vermögensverwalter J.P. Morgan Asset Management und Ann-Katrin Petersen vom weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock zum Kurspotenzial an den Börsen 2023 befragt. Während er vor allem Chancen sieht – für ihn ist das Glas halb voll, identifiziert sie viele uneingepreiste Risiken – sie befürchtet, dass das Glas eher halb leer ist. Hier erklären die Profis ihre Markteinschätzung.

Ist bei den Aktienmärkten das Glas insgesamt eher halb voll oder halb leer? Zwei Experten prognostizieren die Kursentwicklung 2023. - © Carl Keyes, Onyxpix - stock.adobe.com

"Eine milde Rezession würde die Börsenkurse befeuern."

Rund zwölf Prozent verlor der Deutsche Aktienindex DAX im Jahr 2022. „Viele Risiken sind inzwischen eingepreist, Aktien haben Aufwärtspotenzial“, sagt Tilmann Galler von J.P. Morgan.

Tilmann Galler von J.P. Morgan ist von einem stabilen Aufwärtstrend an den Börsen überzeugt.
Tilmann Galler von J.P. Morgan ist von einem stabilen Aufwärtstrend an den Börsen überzeugt. - © J.P.Morgan, Carl Keyes/Onyxpix - stock.adobe.com

Im Grunde“, überlegt Tilmann ­Galler, „könnte selbst eine negative Konjunkturentwicklung die Kurse an der Börse nicht zum Steigen bringen – falls die erwartete Rezession mild ausfällt.“ Denn viele Risiken, wie Inflation, erhöhte Energiepreise, Liefer- und Materialengpässe, seien bereits teilweise in den Kursen eingepreist. Auch weitere Leitzinserhöhungen durch die Europäische Zentralbank (EZB) und ihr amerikanisches Pendant, die Fed, sind für die Börsen keine Überraschung mehr – bis zur Höhe von 5,5 Prozent in den USA. Aktueller Stand: 4,5 Prozent.

Und noch eine negative Entwicklung sei bereits eingepreist: „Ertrag und Umsatz der Unternehmen sind rückläufig, das hemmt die Aktienmarktentwicklung. Entscheidend ist aber, wie stark diese Faktoren zurückgehen“, ist er überzeugt. Falle die erwartete Rezession geringer aus als befürchtet, stehe steigenden Kursen an der Börse nichts mehr im Weg.

Realer Kapitalerhalt möglich

Noch greifbarer seien aktuell die Chancen an den Rentenmärkten. „2022 gab es einen historischen Crash bei den Anleihen. Ihre Mini-Verzinsung bei gleichzeitig steigender Inflation und der Zinswende führte zu massiven Kursverlusten. Wer jetzt einsteigt, bekommt nicht nur eine höhere Verzinsung, sondern hat noch die Chance auf Kursgewinne, wenn Inflation und Zinsen wieder zurück­gehen“, erklärt er. Aktuell rentiere die 10-jährige Staatsanleihe der USA bei 3,8 Prozent, mit Euro-Staatsanleihen werden bereits wieder Renditen über zwei Prozent erzielt – ohne viel Risiko akzeptieren zu müssen. Die langfristigen Inflationserwartungen hingegen liegen bei 2,3 Prozent für die USA und 1,8 Prozent für die Eurozone. So gibt es zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder die Chance auf realen Kapitalerhalt, indem die Anleihen­erträge die Inflationsrate übersteigen.

Da der Rentenmarkt erwartet, dass Inflation und Zinsen aufgrund der zukünftig schwächeren Konjunktur langfristig wieder sinken, sind die Zinsen für Langläufer derzeit niedriger als für Kurzläufer. „Wenn die Zinsen in den kommenden Jahren auf breiter Front fallen, sind Kursgewinne bei Anleihen mit langer Laufzeit besonders ausgeprägt“, sagt Galler. Doch auch kurze Laufzeiten seien interessant, weil die Notenbanken aktuell noch weiter an der Zinsschraube drehen. „Ab 2024 dürften die Leitzinsen und mit ihnen die Anleihezinsen wieder fallen. Dann steigt die Nachfrage, was die Kurse steigen lassen wird – gut für alle, die jetzt einsteigen.“

Tipp für Aktien:

Substanzwerte – Value Aktien – würde ich derzeit Growth-Aktien vorziehen. Ein gutes Investment sind auch Dividendentitel. Sie sollten in diesem Jahr ordentliche Erträge bringen“, sagt Galler. Er sieht im Segment „saubere Energie“ in der gesamten Wertschöpfungskette Chancen. Etwa Unternehmen, die Technologien zur Verfügung stellen für Windkraft, Elektrofahrzeuge, Solar oder Wohnungsbau. Bei Letzterem ist das „Fit für 55“-Programn der EU im Fokus. Denn CO2-Ersparnis und CO2-Bepreisung werden eine Rolle spielen. Die Energiewende wird auch einen Boom in Rohstoffen auslösen: vor allem bei Nickel, Kupfer, Mangan und Lithium.

Vita: Tilmann Galler

Tilmann Galler, Executive Director, arbeitet als globaler Kapitalmarktstratege für die deutschsprachigen Länder bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt. Er ist Teil des globalen „Market Insights“ Teams, das auf Basis von umfangreichem Research für institutionelle und Retail-Kunden Informationen rund um die globalen Volkswirtschaften und Kapitalmärkte erstellt, analysiert und Implikationen für die Investmentstrategien ableitet. In dieser Funktion ist er auch ein geschätzter Ansprechpartner für die Fach- und Wirtschaftspresse, in denen er häufig zitiert wird oder mit Fachbeiträgen vertreten ist. Seit Anfang 2017 veröffentlicht er zudem eine monatliche Kolumne in Focus Money.

Bevor er im Oktober 2007 zunächst als Kunden-Portfoliomanager zu J.P. Morgan Asset Management wechselte, war Tilmann Galler bei UBS Global Asset Management in Frankfurt tätig. Seit März 2002 hat er dort als Portfolio Manager Spezialfonds (Aktien- und gemischte Mandate) betreut. Zuvor arbeitete er als Aktienhändler bei Commerzbank Securities und Rentenhändler an der Börse in Stuttgart. Der Diplom-Ökonom (BWL) ist ein Certified EFFAS Financial Analyst (CEFA) und ein CFA Charterholder.

"Anleger werden es in diesem Börsenjahr nicht leicht haben."

Zu hohe Erwartungen treiben den aktuellen Aufwärtstrend an der Börse. „Die schnelle Erholung ist nicht nachhaltig“, warnt Ann-Katrin Petersen vom weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock. Sie rät zu großer Vorsicht bei der Einzeltitelauswahl.

Ann-Katrin Peters, Blackrock Investment warnt vor den Risiken am Aktienmarkt.
Ann-Katrin Peters, Blackrock Investment warnt vor den Risiken am Aktienmarkt. - © Black Rock Investment, Carl Keyes/Onyxpix - stock.adobe.com

Natürlich ist die Aktie ein wich­tiger Baustein im Depot“, sagt Ann-Katrin Petersen vom weltweit größten Vermögensverwalter Blackrock. „Aber“, gibt sie zu bedenken, „die Auswahl ist derzeit kniffeliger“ als in guten Börsenphasen.
Den aktuellen Lauf an den Börsen hält sie für verfrüht und anfällig für Rückschläge: „Hier spielt die Hoffnung auf eine spürbar nachlassende Inflationsdynamik eine große Rolle. Was dabei zu wenig berücksichtigt wird: Ein Überschreiten des Inflationshöhepunkts bedeutet nicht, dass die Inflation auf die von den Notenbanken angestrebten zwei Prozent zurückfällt.“ Vielmehr könnte der unterliegende Preisdruck auf erhöhten Niveaus verharren in einem Umfeld anhaltender Produktionshemmnisse.

Und hier sieht Petersen den zweiten Irrtum bei der aktuellen Markteinschätzung: „Viele Anleger gehen davon aus, dass die Zentralbanken in USA und Europa ihren rigorosen Straffungskurs bald überdenken. Sie glauben, dass die Zentralbanken auf die erwartete Rezession zügig mit Zinssenkungen reagieren, sobald die Konjunktur schwächelt. „Ich halte dies für wenig wahrscheinlich. Die Zentralbanken dürften der Wirtschaft nicht gleich zu Hilfe eilen. Vielmehr wird die Rezession vom Straffungskurs der Zentralbanken befeuert. Ihre oberste ­Priorität ist die Geldwertstabilität.“

Unsichere Entwicklung

Die aktuelle Erholung an den Börsen werde von der Hoffnung auf Erholung der Weltkonjunktur im Jahresverlauf gestützt. „Die Lieferketten- und Materialengpässe lösen sich langsam auf. Auch Chinas Wiedereröffnung bedeutet Rückenwind. Aber ein wesentlicher Engpass ist nicht behoben: das Fehlen von Arbeitskräften. In den USA sorgt dies bereits für einen spürbaren Lohn- und damit Kostendruck. In Europa werden die Babyboomer im Lauf der 20er-Jahre in Rente gehen. Schon das bremst den Wachstumsausblick.“ Bedenklich sei auch, dass die Energieversorgung für den Winter 2024 in Europa noch nicht gesichert sei.

Fazit:

„Der Wirtschaftsabschwung ist durch den Kampf der Notenbanken gegen Inflationsrisiken programmiert. Die Schätzungen für die Unternehmensgewinne erscheinen daher als zu sportlich – dieses Enttäuschungspotenzial steht den Börsen noch bevor“, sagt Petersen. Deshalb sei der Aktienkauf in der Breite – buy the dip – derzeit keine Empfehlung. Dennoch gibt es Chancen: „Mit Blick auf sechs bis zwölf Monate favorisieren wir Unternehmensanleihen aus Europa und USA mit guter Bonität. Bei den Aktien ­bevorzugen wir die Sektoren Energie, Gesundheit und Finanzwesen. In China ­bieten sich bei Emerging-Market-Aktien selektive Chancen.“

Vita: Ann-Katrin Petersen

Ann-Katrin Petersen, Director, verstärkt seit 2022 das BlackRock Investment Institute (BII) als Senior Investment Strategist. In ihrer Rolle trägt sie zum Thought Leadership des BII bei, ist Teil des globalen und europäischen taktischen Asset Allocation-Teams und stellt die Verbindung zwischen den lokalen Märkten in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa sowie den globalen Strategen des BII her. Frau Petersen stieß von Allianz Global Investors zu BlackRock. Die fundamentale „Top-Down“-Analyse von Kapitalmarktentwicklungen und die Unterstützung des Fondsmanagements durch Investmentideen bildeten dort seit dem Jahr 2017 den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit als Investmentstrategin im Bereich Global Economics & Strategy. Die Diplom-Volkswirtin begann ihre berufliche Laufbahn 2010 als Economist Europe in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Allianz SE. 2014 wechselte Frau Petersen in den Bereich Global Capital Markets & Thematic Research, dem „Think Tank“ von Allianz Global Investors. Ann-Katrin Petersen absolvierte als Jahrgangsbeste ihr Volkswirtschaftsstudium an den Universitäten Bayreuth und Nottingham. Darüber hinaus hält sie einen Bachelor of Arts in „Philosophy & Economics“ und ist CFA-Charterholder. Im Jahr 2019 wurde Frau Petersen von Financial News als einer der „Rising Stars of Asset Management“ in Europa ausgezeichnet.