Fachkräfte im Betrieb halten Pflege von Angehörigen: Mit Flexibilität die pflegenden Mitarbeiter unterstützen

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Viele Mitarbeiter pflegen daheim Angehörige und haben Mühe, diese Belastung mit ihrem Berufsleben zu vereinbaren. Mit ­individuellen Arbeitszeiten und qualifizierten Pflege-Guides können Handwerksunternehmen diesen Kollegen den Alltag erheblich erleichtern.

Seniorchefin Ursula Simon
Seniorchefin Ursula Simon aus Tann in Osthessen ließ sich zum Pflege-Guide ausbilden. - © Nicole Dietzel

Wer bei Simonmetall im osthessischen Tann eine neue Stelle antritt, erhält am ersten Arbeitstag einen bemerkens­werten Flyer in die Hand gedrückt. Auf einer DIN-A4-­Seite stellt sich Senior­chefin Ursula Simon als „betrieb­licher Pflege-Guide“ vor und bietet Hilfe an, wenn Eltern oder ­andere Angehörige ihren Alltag nicht mehr selbstständig meistern können. „Ich lege als Handwerksunternehmerin Wert auf einen persönlichen Kontakt zu allen 32 Beschäftigten und möchte helfen, wenn diese familiäre Probleme drücken“, sagt sie.

Als sie von Schulungen für betrieb­liche Pflege-Guides – auch Pflegelotsen genannt – hörte, entschloss sie sich sofort zu einer Teilnahme. „Mit dieser Weiterbildung weiß ich, was zu tun ist, wenn Angehörige schwer erkranken oder dauerhaft zu pflegen sind“, sagt Simon. Drei Tage lang büffelte sie, welche Regelungen Pflegezeitgesetz (PflegeZG) und Familienpflegezeitgesetz (FPfZG) für solche Tragödien treffen, wie Unterstützungs- und Versicherungsgelder berechnet werden und welche Behörden und sonstige Ansprechpartner zu kontaktieren sind.

Hilfe bei Überforderung bieten

Weiterbildungen zum Pflege-Guide werden von immer mehr Unternehmen nachgefragt. Für Mitarbeiter, die auf einmal Angehörige betreuen müssen und sich von der neuen Situation völlig überfordert fühlen, sind Pflegelotsen erste Ansprechpartner. Sie helfen beim Weg in den neuen Alltag und entwickeln Lösungen, die Beruf und Pflege einigermaßen in Einklang bringen. Ursula Simon hat diese Zusatzaufgabe vor über drei Jahren übernommen. „Wenn nötig, müssen andere Beschäftigte zurückstecken“, erklärt sie. Als unlängst der Sohn eines Simonmetall-Mitarbeiters an Krebs erkrankte und der Vater dann regelmäßig ungeplante Arztbesuche organisieren musste, übernahmen die Kollegen wiederholt dessen Arbeiten und Termine. „Für solche Zwangslagen gibt es gerade in kleinen Unternehmen viel Verständnis“, sieht Unternehmerin Simon das Handwerk im Vorteil.

Solche Zwangslagen häufen sich in zahlreichen Unternehmen. Weil immer mehr Mitarbeiter Eltern, Großeltern und andere Angehörige pflegen, können sie ihre bisherige Arbeit nicht oder nur mit Einschränkungen fortsetzen. Das Statistische Bundesamt untermauert diesen Trend mit Zahlen. Über 4,13 Millionen Menschen beziehen aktuell Leistungen aus den Pflegekassen. Vier von fünf werden zu Hause betreut. Rund 80 Prozent sind über 65, Tendenz stark steigend. Heute leben rund 16 Millionen Senioren in Deutschland. 2030 könnten es knapp 20 Millionen sein.

Freistellung für Mitarbeiter bis sechs Monate möglich

„Die Belastungen, die eine Pflege verursacht, nehmen ebenfalls zu“, gibt Kirsten Frohnert, Projektleiterin von „Erfolgsfaktor Familie“, zu bedenken. Das Unternehmensnetzwerk wurde vom Bundesfamilienministerium und wirtschaftlichen Spitzenverbänden, darunter der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), gegründet.

2020 und 2021 verschärfte die Corona-Krise die Situation in vielen Familien nochmals. Weil wegen der Pandemie die meisten Pflegedienste ihre Tagespflegeangebote einstellten, mussten zahlreiche Angehörige zusätzliche Pflegeaufgaben übernehmen. Ein derartiges Szenario sollten auch Familien durchspielen, die eine 24-Stunden-Pflegekraft beschäftigen wollen. Im Juni fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) ein Grundsatzurteil, dass dieses Personal, das häufig im Ausland angeworben wird, auch für Bereitschaftszeiten den gesetzlichen Mindestlohn (ab 1. Juli: 9,60 Euro pro Stunde) berechnen darf. Mit Geldern aus den Pflegekassen allein können diese Mehrbelastungen nicht gestemmt werden.

„Jeder Arbeitgeber sollte über die Belastungen Bescheid wissen, welche die Pflege von Angehörigen verursachen kann, und Lösungen für die Vereinbarkeit mit dem Beruf entwickeln“, schlussfolgert Frohnert. Andernfalls droht ­„Präsentismus“, wie Arbeitswissenschaftler ein häufig beobachtetes Verhalten am Arbeitsplatz beschreiben. Wenn Arbeitnehmer trotz privater und gesundheit­licher Belastungen am Arbeitsplatz erscheinen, sind sie häufig unkonzentriert und bringen nicht ihre volle Leistung. Spätestens jetzt muss der Arbeitgeber handeln und mit dem Mitarbeiter über dessen Situation sprechen. Arbeitszeit­reduzierungen oder -freistellungen sind dann zunächst die wichtigsten Themen. Der Gesetzgeber hat hierzu genaue Regelungen getroffen. Im PflegeZG ermöglicht er Freistellungen von bis zu sechs Monaten. Im FPfZG sind es sogar – bei gleichzeitiger Teilzeitarbeit – bis zu 24 Monate.

Teilzeit als Ausweg, um die Pflege besser zu organisieren

Die meisten Beschäftigten wollen erfahrungsgemäß ihre Arbeit mindestens auf Teilzeitbasis fortsetzen oder zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. Wenn Unternehmen bereits Erfahrung mit Arbeitszeitmodellen für Familien mit Kindern gesammelt haben und diese während der Lockdowns 2020 und 2021 nochmals individuell anpassen mussten, sind sie im Vorteil. Diese Erfahrung hat auch Andrea Runge gemacht. Mit zwei Angestellten, die privat die Mutter respektive den Ehemann betreuen, traf die Geschäftsführerin der Feinkostfleischerei Hidding in Münster individuelle Absprachen. Für beide waren Teilzeitlösungen beziehungsweise ein früherer Arbeits­beginn und ein früheres Arbeitsende die ideale Lösung. Auch verschobene oder erweiterte Pausenzeiten halfen weiter, weil der Wohnort einer Mitarbeiterin in der Nähe des Arbeitsplatzes ist und diese den pflegebedürftigen Angehörigen auch „zwischendurch“ aufsuchen kann. „Für mich macht es keinen Unterschied, ob ein Mitarbeiter wegen seiner Kinder oder seiner pflegebedürftigen Eltern um Hilfe bittet“, resümiert die Unternehmerin, die selbst eine elfjährige Tochter hat. Ansonsten kann sie sich auf den Zusammenhalt der Mitarbeiter verlassen. „Alle haben mitgespielt und sind für andere eingesprungen, wenn dies nötig war.“

Mit flexiblen Arbeitszeiten, die individuell angepasst werden, hat auch Ursula Simon gute Erfahrungen gemacht. „Wir Pflege-Guides müssen ebenfalls flexibel bleiben“, sagt die langjährige Handwerks­unternehmerin. Jedes Jahr bringt sie ihr Wissen in Folgekursen auf den neuesten Stand. „Mit unserem Unterstützungsangebot wollen wir qualifizierte Fachkräfte an Simonmetall binden“, versichert sie. Wie viele Handwerksunternehmen ­haben auch die Hessen mit Fachkräftemangel zu kämpfen und suchten im Sommer unter anderem einen Metallbaumeister und einen Montageleiter. Wenn Interessenten früher oder später selbst mit Pflegefällen in ihrer Familie rechnen, haben sie dank Ursula Simon einen zusätzlichen Grund für eine ­Bewerbung.

Der Pflegelotse: Praktische Hilfe zur Selbsthilfe

Wichtiges Wissen aus dem Pflegezeitgesetz (PflegeZG), dem Familienpflegezeitgesetz (FPfZG) oder über die Leistungen der Pflegeversicherung vermitteln spezielle Fortbildungen.

Mit Pflege-Guides – auch Pflegelotsen oder Pflegecoaches genannt – kann jeder Betrieb seinen Mitarbeitern im Ernstfall Hilfe zur Selbsthilfe bieten. In zwei- oder dreitägigen Präsenz- oder Online-Seminaren bilden sich ausgesuchte Mitarbeiter zum Ansprechpartner für alle Beschäftigten mit familiären Pflegefällen weiter. Auf dem Stundenplan stehen unter anderem

  • die Inhalte von Pflegezeitgesetz (PflegeZG) und Familienpflegezeitgesetz (FPfZG)
  • die Leistungen der Pflegeversicherung
  • Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügungen und weitere wichtige Papiere sowie regionale Betreuungs- und Hospizangebote.

Vor allem Beschäftigten, die völlig unvorhergesehen ihren Alltag umstellen müssen, können die Lotsen helfen: Sie führen diese in alle Aspekte zum Thema Pflege ein und stellen Kontakte zu Behörden und anderen Ansprechpartnern her. Vor allem Kammern, Kommunen, Krankenkassen und kirchliche Einrichtungen bieten Kurse an. Weil regelmäßig neue Inhalte gelernt werden müssen, sollten die Lotsen spätestens nach zwei Jahren ihre Weiterbildung auffrischen.

Checkliste: Klären Sie den Pflegebedarf und ­die Organisation

Nicht jeder Mitarbeiter hat Kinder, aber jeder Mitarbeiter hat Eltern oder Großeltern, die eventuell gepflegt werden müssen. Jeder Arbeitgeber sollte deshalb auf solche Szenarien vorbereitet sein und folgende Punkte checken.

  • Arbeitszeit: Prüfen Sie, ob Pflege und Beruf mit den vorhandenen Arbeitszeit­modellen in Einklang zu bringen sind. Können Sie Teilzeitarbeit und Freistellungen mit ungewisser Dauer, individuellen Arbeitsbeginn und -ende und zusätzliches Homeoffice bieten? Was tun Sie, wenn Fach- und Führungskräfte sich für Monate oder gar Jahre freinehmen müssen? Weil Pflegebedürftigkeit häufig zunimmt, müssen viele Mitarbeiter ihre Rückkehr aufschieben oder ihre Arbeitszeiten weiter reduzieren.
  • Personal: Ermitteln Sie, wie viele Mitarbeiter Angehörige pflegen oder in naher Zukunft hiermit rechnen. Ermutigen Sie diese Mitarbeiter, über ihren Pflegealltag offen zu sprechen. Viele äußern sich ungern über demente oder inkontinente Verwandte. Fragen Sie bei Jahresgesprächen und anderen Dialogterminen nach. In größeren Betrieben bietet sich eine – gegebenenfalls anonyme – Um­frage an. Mancher Betrieb hat so erfahren, dass jeder dritte Beschäftigte Angehörige pflegt.
  • Pflege-Guide: Prüfen Sie das Engagement eines betrieblichen Pflege-Guides als Ansprechpartner für alle Fragen zum Thema (rechtliche Regelungen, Versicherungs- und Finanzierungsfragen, Kontakte zu Behörden und Pflegeeinrichtungen). Vor allem Mitarbeiter aus der Personalabteilung und solche mit Pflegeerfahrung sind geeignet. Auch Sie selbst kommen infrage, wenn Sie Kapazitäten reservieren können. Für sehr kleine Unternehmen (unter 20 Mitarbeiter) reichen Handbücher und Notfallmappen aus: Vorlagen hierfür haben Servicestellen und Netzwerke auf Bundes- (Erfolgsfaktor Familie) oder Landesebene (u.a. Familienpakt Bayern, Competentia in Nordrhein-Westfalen).
  • Umfeld: Binden Sie alle Führungskräfte ein: Für betroffene Mitarbeiter können diese ebenfalls wichtige Ansprechpartner sein und außerdem bei der übrigen Belegschaft um Verständnis werben. Vernetzen Sie sich mit anderen Unternehmen und tauschen Sie sich auf Plattformen oder über Servicestellen aus. Organisieren Sie mit weiteren mittelständischen Unternehmen Informa­tionsveranstaltungen für Mitarbeiter und kooperieren Sie mit örtlichen Pflegeeinrichtungen.