Automatisierung Robotics im Handwerk: 3 Anwendungsfälle aus der Praxis

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Mehr Aufträge, weniger Fachkräfte – diese Bilanz ziehen viele Betriebe im Handwerk. Manche der täglich anfallenden ­Arbeiten lassen sich heute immer besser mit einem Roboter erledigen. Drei Anwendungsfälle zeigen, wie Betriebe unterschiedlicher Gewerke von der Automatisierungslösung profitieren.

Kinderreha- und Orthopädietechniker Strehl
Björn Strehl, Geschäftsführer Strehl Kinderreha- und Orthopädietechnik. - © Kinderreha- und Orthopädietechniker Strehl

Wer schleppt den tonnenschweren Papierstapel in der Druckerei? Wer fräst den Schaumstoff zurecht, auch wenn´s kräftig staubt? Und wer macht die Nachtschicht? Für immer mehr Betriebe liegt die Antwort auf der Hand: der Roboter. Mit der Automatisierungstechnologie lösen die Betriebe gleich mehrere Probleme, schildert Daniel Hübschmann, der in der Handwerkskammer Dresden die Abteilung Innovationen und Technologie leitet. „Robotics bieten den Vorteil, dass sie Handwerkern schwere und monotone Arbeiten abnehmen, ohne sie zu ersetzen, wie es viele befürchten.“ Fakt ist aber: Die Maschinen können die vielseitigen Aufgaben im Handwerk nicht allein abdecken. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Mitarbeitern zuzuarbeiten.

Gibt es im Betrieb Routine-Jobs, die auch der Maschinen-Kollege verrichten kann, ist die Rechnung simpel: „Ein Roboter amortisiert sich in vielen Fällen schon nach ein bis zwei Jahren“, sagt Hübschmann. Das Beste: Anstatt Mitarbeiter abzuschrecken, zieht er sogar welche an. Das zeigen die Anwendungsfälle aus drei verschiedenen Gewerken.

1. Kinderreha- und Orthopädietechniker Strehl

Roboter Goliath trägt seinen Namen, weil sein technischer Erfinder bei der Hersteller-Firma Kuka David heißt – und viel Mühe darauf verwendete, die komplexe Maschine zu kreieren. Heute arbeitet seine Schöpfung Goliath beim Kinderreha- und Orthopädietechniker Strehl in Bremervörde, wo er die Mühe wettmacht: Täglich fräst er Sitzorthesen nach Maß für mehrfach- und schwerst­behinderte Kinder. „Der Roboter arbeitet eine Aufgabe nach der anderen ab“, freut sich Geschäftsführer Björn Strehl.

Die Warteschlange für Goliaths Aufgaben ist lang. Nachdem von jedem Patienten die Körperform berührungslos per 3D-Scan aufgenommen wurde, gelangen die gemessenen Umfänge in den Computer. Dann ist der Robo-Kollege an der Reihe: Aus einem massiven Schaumblock fräst der Sieben-Achs-Fräsroboter millimetergenau die Positivform, aus der seine menschlichen Kollegen dann die endgültige Sitzorthese fertigen.

Das digitalisierte und automatisierte Verfahren ersetzt den Gipsraum, in dem zuvor aufwendige Positivabdrücke gefertigt werden mussten. „Diese Arbeit erforderte viel Schlepperei, dauerte oftmals einen ganzen Tag und erzeugte viel Schmutz“, schildert Strehl, der sich Goliath vor zwei Jahren ins Haus geholt hat. Aus zwei Gründen: Einerseits ist es nicht leicht, in der 20.000-Einwohner-Kleinstadt Bremervörde Arbeitskräfte zu finden. Andererseits stellt sich der Unternehmer über die automatisierte und cleane Fertigung der orthopädischen Hilfsmittel auch für den Nachwuchs attraktiv auf.

Das erste Mal ist Strehl seiner Roboterlösung auf der Internationalen Handwerksmesse 2019 in München begegnet. Dort stellten Technologiehersteller ihre Modelle vor. Der Handwerkschef rechnete: Roboter plus TÜV plus die CAM-Software-Programmierung für die gesamten digitalen Abläufe, die der Modellbauer Werk5 aus Berlin vornahm, kosteten ihn einmalig rund 350.000 Euro. Eine stattliche Summe, die sich jedoch über die Jahre amortisiert. „Mit dem Roboter sparen wir uns circa 170 Arbeitstage pro Jahr ein und sind außerdem in der Lage, die Produkte schneller herzustellen und zu liefern“, sagt Strehl. Der Betriebschef weist darauf hin, dass er damit keinen seiner 42 Mitarbeiter ersetzen will. Im Gegenteil: Die körperlich anstrengenden und aufgrund des Lärms und Staubs oft auch gesundheitsschädigenden Arbeiten erledigt nun Goliath. Seine Kollegen können sich nun angenehmeren Aufgaben widmen.

2. Buchbinderei Pipp

Papier ist geduldig, aber auch ziemlich schwer. In der Buchbinderei Pipp im niederbayerischen Altheim geht daher der MBO CoBo-Stack zur Hand, wenn wuchtige Papierstapel getragen werden müssen. Im Arbeitsprozess bewegt der Cobot bis zu 1,8 Tonnen Material pro Stunde und stapelt es auf Paletten. „Mithilfe des Roboters können wir die Leistungsfähigkeit unserer Maschinen ausreizen und gleichzeitig die physische Belastung für die Mitarbeiter deutlich reduzieren. Sie können sich nun neuen, anspruchsvolleren Aufgaben wie der Qualitätskontrolle oder der Auf­tragsvorbereitung widmen“, erklärt Geschäftsführer Jürgen Pipp. Mit einer Photovol­taik-Anlage und intelligenter Haustechnik legt er großen Wert auf ein modernes Antlitz seiner Firma.

Dazu zählt seit Mai 2019 der Hilfsarbeiter auf vier Rädern. Sein Hersteller MBO Postpress Solutions, ein Maschinenbauer von Falzmaschinen im baden-württembergischen Oppenweiler, hat den Cobot speziell für Druckereibetriebe geschaffen. „Der Beruf des Buchbinders hat nicht den besten Ruf, weil er körperlich sehr belastend ist, vor allem für den Rücken“, schildert Sebastian König, der die technische Entwicklung beim Hersteller verantwortet. Seit Jahren versuchen Druckereien daher, mit weniger Mitarbeitern auszukommen, indem sie Automatisierungslösungen heranziehen.

Beim Drei-Schicht-Betrieb von Pipp ersetzt der Cobot keinen ganzen Arbeitsplatz – doch das ist auch nicht im Sinne seines Erfinders. „Mensch und Maschine sollen die Arbeit in der Druckerei Hand in Hand bewältigen“, erläutert König. Der Roboter ist dafür mit einem passenden kollaborativen Greifkonzept ausgestattet. Weil in den Betrieben viel Bewegung herrscht und oft platzsparend gearbeitet werden muss, hat die mobile Hilfsmaschine keinen Schutzzaun. Um Zusammenstöße und Unfälle zu vermeiden, ist sie daher mit Sensoren versehen: Kommt ein Mitarbeiter dem MBO CoBo-Stack zu nahe, stoppt er automatisch.

Der Cobot, der auch an Drittmaschinen angeschlossen werden kann und flexibel einstellbar ist, kostet je nach Ausstattung zwischen 100.000 und 120.000 Euro. „Damit lohnt sich die Anschaffung auch für kleine und mittelständische Unternehmen“, findet König. Wenn er angeliefert wird, sorgen Servicekräfte von MBO für die individuell benötigte Einstellung und weisen die Mitarbeiter ein – und die neue Teamarbeit kann losgehen.

3. Gerüstbau-Unternehmen Bassenberg & Schwarting

Das Gerüstbau-Handwerk hat ein großes Problem: Jährlich passieren viele Unfälle, weil Mitarbeiter in schwindelnden Höhen an Gebäuden arbeiten. Firmen wie Shell macht das zu schaffen: Der Mineralöl- und Erdgas-Konzern hat die Devise „Goal Zero“ ausgegeben, die auch für Partnerunternehmen gilt: Keine Unfälle mehr am Arbeitsplatz. Artem Kuchukov, der Baurobotik an der Technischen Universität München studiert hat, nahm die Herausforderung an. Für die Gerüstbauer erfand er eine innovative Sicherheitslösung: ein Liftbot, dem die Arbeit in der Luft nichts anhaben kann.

Wo sonst ein Dutzend Mitarbeiter Bauelemente von Hand zu Hand auf dem Gerüst weiterreichen, sind nur noch zwei nötig, um gemeinsam mit dem robotischen Lastenaufzug von Kuchukovs Start-up Kewazo zu arbeiten. Sensoren steuern den Bot über die Fläche und bemessen die Abstände millimetergenau. In dieser freien Bewegung seines Roboters im Raum definiert der Experte auch den Hauptunterschied zur klassischen Maschine: „Diese ist vom Menschen abhängig, der den Knopf drückt, um eine spezielle Arbeit immer gleich auszuführen. Unser Roboter dagegen hat eine gewisse Entscheidungsfreiheit“, erklärt er. Da jeder Liftbot individuell auf die Bedürfnisse des Gerüstbauers angepasst wird, will Kuchukov keinen fixen Preis nennen. Doch verspricht er: „Jeder Tag, an dem der Liftbot im Einsatz ist, spart der Betrieb zwischen 700 und 2.000 Euro.“

In Deutschland arbeitet das Gerüstbau-Unternehmen Bassenberg & Schwarting im niedersächsischen Stadland seit Ende 2020 mit dem Liftbot. „Der Liftbot nimmt unseren Mitarbeitern die schwere körperliche Arbeit ab und senkt die Unfallquote erheblich“, sagt Geschäftsführer Lars Bechstein. Jeder Arbeitsschritt produziert Daten – aus denen sich lernen lässt. Dafür ist an den Liftbot eine Datenanalyse-Plattform angeschlossen. Mitarbeiter können darüber in Echtzeit den Status der Baustelle einsehen und dadurch datenbasierte Entscheidungen über Projekte treffen. Das führt zu einer steigenden Digitalisierung und Automatisierung auf der Baustelle, erklärt Kewazo-Gründer Kuchukov. „Über solche intelligenten Lösungen gelingt es nicht nur, die Arbeiten auf der Baustelle zu beschleunigen – sie können auch erheblich sicherer ausgeführt werden.“

Checkliste: Wann lohnt sich Kollege Roboter?

Um festzustellen, ob sich Robotics-Technologien im Betrieb lohnen, können sich Betriebschefs folgende Fragen stellen:

  • Welche Arbeiten sind wiederkehrend, schwer, monoton oder gesundheitsschädigend und können daher auch von einer intelligent gesteuerten Hilfsmaschine erledigt werden?
  • Wenn ein Roboter nervige Arbeiten erledigt, welche Chancen und Potenziale eröffnen sich dann für die Mitarbeiter im Betrieb?
  • Wie profitiert der Betrieb, wenn neue Technologien im Einsatz sind: Wie wirkt sich das auf das Image der Firma aus – bei Kunden, Fach- und Nachwuchskräften?
  • Nicht nur die Hardware, sondern auch die Programmierung kostet bei der Anschaffung eines Roboters viel Geld. Wann amortisieren sich die Ausgaben im Betrieb?