Reportage über neue Kooperationsform Cocrafting im Handwerk: So klappt branchenübergreifendes Arbeiten in der Community

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Auftragsabwicklung, Auftragsspitzen, Kooperationen, Standortwahl und Zukunftsperspektiven im Handwerk

Anders als bei Gewerbehöfen, bei denen Firmen vor allem ein gemeinsames Gelände nutzen, geht es beim Cocrafting primär um Gemeinschaft. Räume, Maschinen, Projekte und Wissen werden miteinander geteilt. In Berlin zeigt das KAOS, wie der Trend im Handwerksalltag funktioniert.

Es ist ein Ort für interdisziplinären Austausch und zwar auf den verschiedensten Ebenen. Mehrere Künste und Gewerke teilen gemeinsame Räume, Projekte, Ideen,
Die historische Lagerhalle des KAOS mit direkter Nähe zur Spree verfügt über zahlreiche Werkstätten. - © Fabian Zapatka

Die Kamera auf Position. Im Hintergrund befindet sich ein alter Industriebau, der im grauen Berliner Winter wie verlassen scheint, gleichermaßen aber auch eine geeignete Kulisse für ein Shooting bietet. Mühsam dringt das Tageslicht an diesem Januartag durch die Wolkendecke. Gerade gut für die nächste Aufnahme. Plötzlich stoppt Volker Rueß den Fotografen: „Da muss ich kurz rangehen“, deutet er auf sein Smartphone. Zwei Minuten ­Pause. „Nur eine Anfrage für einen Auftrag, den ich aber nicht mehr annehmen kann.“ Nicht ohne Grund, Rueß war einst als Schmied im KAOS tätig, heute ist er voll und ganz Geschäftsführer des Cocrafting Space.

Ein Hof mit vielen Facetten

Mitten im Herzen Ostberlins befindet sich die Kreative Arbeitsgemeinschaft Oberschöneweide, kurz KAOS. Im Sommer 2013 wurde der Cocrafting Space von drei befreundeten Designstudenten gegründet. Es ist ein Ort für interdisziplinären Austausch und zwar auf den verschiedensten Ebenen. Mehrere Künste und Gewerke teilen gemeinsame Räume, Projekte, Ideen, aber auch Maschinen miteinander. Die historische Lagerhalle mit direkter Nähe zur Spree verfügt über zahlreiche Werkstätten, Ateliers sowie Gemeinschafts-
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Typisch Berlin ist es ein bunter Ort, wo über die Jahre schon Holzhandwerker, Glaser, Schlosser, aber auch Produkt- und Möbeldesigner Teil der Community sind und waren. Immer wieder zieht es auch verschiedene Kunsthandwerker und Künstler wie Filmemacher, Lichtdesigner und Musikproduzenten an. Insgesamt zählt das KAOS aktuell 110 Mitglieder – inklusive der Autorin dieses Textes. Gewissermaßen versteht sich der Space als Hybridmodell, neben Werkstätten gibt es auch einen klassischen Coworking-Bereich. Die Finanzierung des Cocrafting Space läuft über drei Säulen: Neben den regelmäßigen Einnahmen durch die Mitglieder werden als zweite Säule einzelne Flächen entweder verkauft oder aber vermietet. Über die Jahre wurden als dritte Säule zudem einige Räumlichkeiten so ausgebaut, dass sie für externe Events, Roadshows und Workshops, aber auch für Hochzeiten, Fotoshootings und Filmdrehs zur Verfügung stehen.

Der größte gemeinsame Teiler

Doch um was geht es im KAOS genau? Der Kern des Berliner Cocrafting Space definiert sich vor allem über einen ausgeprägten Community-Gedanken sowie eine Kultur des Teilens, von der jedes einzelne Mitglied tagtäglich profitieren kann. So nutzt Catharina Rubel mit drei anderen Keramikerinnen nicht nur gemeinsam die Werkstatt, sondern auch einen Brennofen, der für den Einzelnen andernfalls eine Investition von etwa 2.000 Euro bedeuten würde. Weil so ein Ofen gerade beim Schrühbrand Temperaturen um die 1.000 Grad Celsius erreicht und damit einen entsprechend hohen Energieverbrauch hat, wird die Nutzung bei möglichst voller Auslastung untereinander abgestimmt: „Es wäre wenig effizient den Ofen halb voll laufen zu lassen. Außerdem können Rohlinge ohnehin gar nicht lang genug trocknen, was längere ‚Wartezeiten‘ unproblematisch macht“, erklärt die Keramikerin.

Auch in der Holzwerkstatt teilt man sich große Maschinen wie die Plattensäge, die einst von mehreren Mitgliedern gekauft wurde. Jedes neue Mitglied, das keine Maschine beisteuert, zahlt 70 Euro in die Rücklagenkasse für Reparaturen und Neuinvestitionen. Doch nicht nur Werkzeuge und Maschinen teilt man sich im KAOS, auch Aufträge werden gelegentlich zum Gemeinschaftsprojekt, wie sich Volker Rueß erinnert: „Ein ehemaliger Polsterer hatte vor Jahren einen Auftrag für mehrere Sofas mit Beistelltischen. Zwei Produktdesigner haben ihn dann beim Entwurf unterstützt und ein Schlosser die Beschläge gebaut.“ Auf die innovativen Ideen im Alltagsgeschehen eines Cocrafting Space freut sich auch Arash Davar, der erst seit wenigen Wochen Mitglied ist und Schmuck aus Beton fertigt: „Schon in meinen ersten Tagen hier habe ich die geballte Kreativität des Kollektivs gespürt und dank inspirierender Gespräche direkt neue Ideen entwickelt.“

Fachübergreifende Vernetzung

Schmied und Metallarbeiter Jan Kuhr schätzt vor allem die fachübergreifende Vernetzung und Unterstützung unter den Mitgliedern: „Beim Bau meiner Homepage hat mir eine Webdesignerin geholfen. Binnen kürzester Zeit hat sie meine Seite strukturiert und zu einer besseren Sichtbarkeit im Netz verholfen.“ Künftig will er noch mehr auf diesen Aspekt des Teilens setzen.

Auch Mechatroniker Felix Telzerow sieht die Stärken des Cocrafting Space im täglichen Wissensaustausch. Zusammen mit einem Zweiradmechaniker und einem Maschinenbauer baute er über Wochen an einem Lastenrad. Statt ständig mit dem Transporter zum nahegelegenen Baumarkt zu fahren, sollte mit den Mitteln einer Nachhaltigkeitsförderung ein klimafreundliches Gefährt zur solidarischen Nutzung entstehen. Mit sichtbarem Erfolg – auch für den Einzelnen: „Im KAOS hat man ständig die Möglichkeit, von anderen Mitgliedern zu lernen. Durch ein Projekt wie dieses haben sich meine Fähigkeiten im Schweißen noch mal enorm verbessert“, freut sich Telzerow. Schon mehrfach haben in der Vergangenheit gegenseitige Inspiration und Motivation nicht nur zu temporären gemeinsamen Projekten, sondern schließlich sogar zu gemeinsamen neuen Firmen geführt.

Übersicht: Gewerke, für die sich ein Cocrafting Space lohnt

Oftmals verwenden einige Gewerke ähnliche Maschinen, Werkzeuge und Materialien, weshalb sich eine gemeinsame Nutzung im Cocrafting Space als besonders wirtschaftlich erweist:

  • Tischlerei
  • Glaserei
  • Polsterei
  • Restauration
  • Metallbau
  • Dachdeckerei
  • Bootsbau
  • Keramikkunst
  • Schneiderei
  • Elektrotechnik
  • Zweiradmechatronik
  • SHK-Unternehmen

Faire Mitgliedschaft

Als soziales Kollektiv entschied man sich in puncto Finanzierung für ein faires, flexibles Mietsystem. Bewusst wird bei den einzelnen Verträgen auf eine Mindestlaufzeit verzichtet, um so kein Mitglied bei Engpässen in Schieflage zu bringen. Auch die Mietbeiträge ermittelt man gerecht für den Einzelnen, worin sich das KAOS von den festen Tarifsätzen anderer Spaces unterscheidet. Um den jeweiligen Betrag zu berechnen, werden zunächst mehrere individuelle Faktoren als Privatmiete definiert. Hier sind etwa die Dauer der Mitgliedschaft, die Höhe des Einkommens sowie die gebuchte Flächengröße relevant. Ebenfalls wichtig ist, ob die Person permanent Starkstrom bezieht oder einen besonderen Vorteil für die Gemeinschaft mit einbringt – wie etwa ein Spezialgerät.

Je nach Mitgliedschaft können die Faktoren entsprechend variieren und sich mit der Zeit auch verändern. Zum individuell ermittelten Mitgliedsbeitrag kommen im zweiten Schritt die monat­lichen Realausgaben hinzu: Netto-Kaltmiete, Energie- und Betriebskosten, Personal, Marketing, aber auch Kosten für die allgemeine Grundversorgung wie Kaffee- und Teevorräte.

Ein Macher für Macher

Anders als im hippen Berlin mutet die Cocrafting-Idee von Michael Schmutzer aus dem mittelfränkischen Neuselingsbach an. Als Unternehmer entwickelt er Standorte und Immobilien weiter, um so das Handwerk wieder verstärkt in den ländlichen Raum zu bringen. „Ich habe festgestellt, dass sich Handwerker schon immer gegenseitig unterstützt haben, aber es nie einen Ort für Austausch und Zusammenarbeit gab“, sagt Schmutzer. Aktuell realisiert er mit dem „Macherhof“ sein nunmehr viertes Projekt im Bereich neue Arbeitswelten – ein fünftes Konzept ist bereits in Planung. Auf dem alten Industrieareal von insgesamt 20.000 Quadratmetern sollen künftig verschiedene Gewerke und Unternehmen nachbarschaftlich zusammenkommen.

Neben einer Auto­aufbereitung, einem Sanitär- und einem Elektrounternehmen beziehen schon bald noch weitere Handwerksbetriebe das Gewerbegrundstück. „Alle glauben immer, dass modernes Arbeiten nur in der Stadt funktioniert. Ich will das Gegenteil beweisen“, erklärt der Immobilienmanager. Nicht nur, dass er alte Areale wieder nutzbar macht, auch ein anderes akutes Problem nimmt er parallel in Angriff. Orte wie der „Macherhof“ sind vor allem für auf dem Land lebende Handwerker attraktiv. Statt täglich in die Stadt pendeln oder als Unternehmer teure Gewerbeflächen anmieten zu müssen, befindet sich die Arbeitsstätte wohnortnah. Gerade die jüngere Generation wird so wieder mehr in ländliche Gebiete gelockt, statt in den urbanen Raum abzuwandern.

Zehn Jahre KAOS

Zurück in Berlin betont Rueß während einer der letzten Aufnahmen für das Shooting: „Wir arbeiten schon extrem hart daran, dass das KAOS ein Ort der Community bleibt.“ Zwar sei der Cocrafting Space als GmbH ein Unternehmen, doch wichtige Entscheidungen werden, wenn möglich, gemeinschaftlich getroffen. Regelmäßig gibt es Bereichs- und Visionstreffen sowie einen "KAOS-Rat", die sich allesamt um die kurz- und langfristige Entwicklung des Cocrafting Space kümmern. Zweimal im Jahr findet eine Vollversammlung statt.

Wie Rueß weiß, birgt allerdings jedes noch so starke Kollektiv auch sein Konfliktpotenzial (siehe Selbsttest): „Menschen arbeiten unterschiedlich, haben verschiedene Herangehensweisen. Damit es nicht zu Unmut kommt, versuchen wir in Meetings über alles offen zu reden.“ Als habe er sich selbst das richtige Stichwort gegeben, blickt der Geschäftsführer etwas nervös auf die Uhr. Im nächsten Moment erklärt er, dass gleich ein nächstes Treffen stattfinde. In wenigen Monaten steht ein großes Jubiläum an: Das KAOS wird zehn Jahre alt. Und die Planungen dafür sind bereits in vollem Gange – natürlich packen wieder alle gemeinsam mit an!

Steckbrief: Das ist das KAOS

  • Name: Kreative Arbeitsgemeinschaft Oberschöneweide
  • Standort: Berlin Treptow-Köpenick (Bezirk)
  • Organisation: GmbH
  • Gründungsjahr: 2013
  • Fläche: 2.500 m² inkl. Außenflächen (Terrasse, Bootsanleger usw.)
  • Mitglieder: ca. 110 (Stand: Januar 2023)
  • Einnahmen:
    - Faires Mietsystem für Mitglieder
    - Vermietung & Verkauf einzelner Räume und
    - Flächen für Hochzeiten, Workshops, Firmenevents, Shootings, Filmdrehs etc.