Schneider Handwerkskunst: Trachten zwischen Tradition und Punk

Trachtenschneiderin Sandra Müller übersetzt historische Kleidungsformen in die heutige Zeit – dafür gründete sie das Label „Trachtenpunk“. Und hat nebenbei ein fast vergessenes Handwerk wiederbelebt. Handwerkskunst in Reinform.

Tradition trifft Punk bei den ausgefallenen Trachten der Schneiderin.
Tradition trifft Punk bei den ausgefallenen Trachten der Schneiderin. - © Michaela Wolfson

Wer an Trachten denkt, der hat meist eine Lederhose oder ein Dirndl vor Augen. Aber das Thema ist deutlich vielschich­tiger, wie Trachtenschneiderin Sandra Müller erklärt. Mit ihrer Leidenschaft für historische Kleidung und regional verwurzelte Trachten erschafft sie Werke, die jenseits der typischen Oktoberfest-Tracht liegen. Ihre Trachtenmode ist farbenfroh und voller unerwarteter Details. Dafür gründete sie das Label "Trachtenpunk".

Müller sieht ihre Arbeit als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne. Sie beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Themen wie Heimat, Identität und Trachten aus verschiedenen Teilen Deutschlands. Doch anstatt diese Trachten einfach zu kopieren, schafft sie moderne Interpretationen, die sowohl im Alltag tragbar als auch Ausdruck persönlicher Identität sind. „Ich wollte nicht nur Kleidung entwerfen, sondern auch mit meiner Arbeit eine Verbindung zur Heimat schaffen, die weltoffen ist“, erklärt die Trachtenschneiderin zu ihrer Handwerkskunst.

Historische Bedeutung, moderne Optik

Sandra Müllers Leidenschaft für Trachten wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt. „Meine Uroma trug mit der Marburger katholischen Tracht ihr Leben lang eine der letzten regionalen Kleidungsformen Deutschlands“, erinnert sie sich. Die Begeisterung für die traditionelle Kleidungsform vertiefte sich während ihres Studiums: „Ich habe ein paar Frauen gesehen, die noch Tracht getragen haben, und wollte es auch haben“, erzählt sie. Nach dem Studium führte sie der Weg zur schwäbischen Trachtenberatungsstelle in Krumbach. „Dort habe ich das Handwerk wie vor hundert Jahren gelernt“, erinnert sich die 43-Jährige. Während ihrer Ausbildung ist sie auch mit einem anderen, beinahe ausgestorbenen Handwerk in Berührung gekommen: der Herstellung von Posamentenknöpfen.

Trachtenschneiderin Sandra Müller trägt die Posamentenknöpfe als Ohrschmuck, Kette und Anhänger. Sie hat dier außergewöhnlichen Handwerkskunst neues Leben eingehaucht.
Sandra Müller trägt die Posamentenknöpfe als Ohrschmuck, Kette und Anhänger. Für sie sind die textilen Knöpfe mehr als ein Verschluss oder Zierde. - © Michaela Wolfson

Handwerkskunst wiederbelebt

„Der Knopfmacher war im 18. Jahrhundert noch weitverbreitet“, erzählt die Schneiderin. Doch im Laufe der Zeit geriet das Handwerk in Vergessenheit. Zusammen mit ihrer Lehrmeisterin Monika Hoede hauchten sie der Knöpfe-Kunst neues Leben ein, schrieben mehrere Bücher und haben damit einen „Trend losgetreten“, wie sich die Schneiderin erinnert. Selbst aus Japan erhielten die Autorinnen Rückmeldung. Müller gründete die „Posamentenknopf-Manufaktur“ und bietet seitdem regelmäßig Kurse an, in denen Interessierte lernen können, die kunstvollen Knöpfe selbst herzustellen. „Ich kann eine historische Technik, die nur noch sehr wenige beherrschen“, erklärt die Knopfmacherin. Es sei ihr wichtig, das Handwerk lebendig zu halten und an die nächste Generation weiterzugeben.

Durch die Kurse und den Verkauf sind die Knöpfe mittlerweile zu ihrer Haupteinnahmequelle geworden. Ihre Herstellung erfordert viel Geduld und Fingerspitzengefühl, denn die Muster und Formen der Knöpfe entstehen in aufwendiger Handarbeit. „Auslernen" kann auch Müller die Handwerkskunst nicht, denn die Möglichkeiten sind grenzenlos. Und so entstehen in ihrer Manufaktur nicht nur historische Repliken, sondern auch ausgefallene Knöpfe, die perfekt zu ihrem Label und den Trachten passen. „Ich bin vielleicht der Mensch, der in der Neuzeit die meisten Knöpfe gefertigt hat“, sagt Sandra Müller stolz.

Die beinahe ausgestorbene Handwerkskunst ist zu der Haupteinnahmequelle der Designerin geworden.
Die mit Garn umwickelten Holzscheiben sind zur Haupteinnahmequelle der Designerin geworden. - © Michaela Wolfson

Tracht soll und funktionell sein

Der Name „Trachtenpunk“ stammt aus Müllers Jugend, als sie Teil einer Mädchenband war. Die Punk-Elemente ihrer Kleidungsstücke sind durch das Spiel mit Farben und Formen sehr präsent. Trotz ihrer kreativen Freiheit bleibt Müllers Arbeit tief verwurzelt in der Tradition. „Im Kern beziehe ich mich immer auf etwas Regionales“, sagt sie. Dabei entstehen vor allem aus­gefallene Trachten „für Liebhaber“, wie die gebürtige Fränkin erklärt. Kunden warten gut und gerne auch mal ein Jahr auf ein handgefertigtes Kleidungsstück von Müller.

Für die Designerin aus dem bayerischen Waldstetten ist eine Tracht aber kein Kleidungsstück für besondere Anlässe, sondern funktionell und für alle Tätigkeiten geeignet: „Am Rock kann ich mir die Hände abwischen, in den Taschen Dinge verstauen und je nach Wetter variiere ich die Rocklagen und Strümpfe. Ich gehe damit sogar wandern.“ Sie trägt gerne und oft Tracht und bleibt dabei ihrem Grundsatz treu: Tradition ist kein starrer Zustand, sondern etwas Lebendiges, das immer wieder neu interpretiert werden kann.

Zugehörige Themenseiten:
Betrieb des Monats, Frauen im Handwerk, Geschäftsideen, Historische Handwerker und Immaterielles Kulturerbe Handwerk