Arbeitsethik Work-Life-Blending: So meistern Chefs das Verschmelzen von Privatleben und Arbeitswelt

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Die Digitalisierung in der Wirtschaft und im Handwerk schafft neue Formen der Arbeitsorganisation. Für Mitarbeiter bringt dies neue Herausforderungen mit sich. Für Unternehmer heißt es, damit verantwortungsvoll umzugehen. Lesen Sie, wie Sie mit Arbeitsethik Lösungen für sich und Ihre Mitarbeiter finden.

Walter Stuber
Walter Stuber, Geschäftsführender Gesellschafter der Firma Spezialgerüstbau Gemeinhardt Service GmbH in Roßwein. - © Stephan Floss

Klare Kante von Walter Stuber: „Früher ‚No-Go‘ – heute Corona-Alltag: Geschäftliche Meetings abends und am Wochenende! Ich mache nicht mit!“ Mit diesem Blogeintrag vom 20. April 2021 spricht der Firmenchef Klartext. Der Geschäftsführende Gesellschafter der Firma Spezialgerüstbau Gemeinhardt im sächsischen Roßwein beschwert sich über zunehmende Anfragen wegen Videokonferenzen am Feierabend, zum Teil bis 22 Uhr. Vor allem Tagungen und Geschäftsmeetings fänden nicht mehr – wie vor Corona – während der Arbeitswoche statt. Auch am Wochenende bekommt der Handwerksunternehmer jetzt Einladungen zu Besprechungen per Videokonferenz, „mal eben“ bequem von zu Hause aus.

„Work-Life-Blending“ und „Zoom Fatigue“

Die Randstad-ifo-Personalleiter-Befragung 2/2020 zu Homeoffice und Digitalisierung belegt, was die Wortschöpfung „Work-Life-Blending“ ausdrückt: das schleichende Verschmelzen von Privatleben und Arbeitswelt. Seit 2020 arbeiten rund 61 Prozent der Berufstätigen in Deutschland von zu Hause aus, 36 Prozent arbeiten mobil. Gewollt oder ungewollt erlebt jeder zweite von ihnen aktuell das Ineinander dieser beiden Bereiche – eine Grenze existiert nicht mehr.

In der Corona-Zeit hat sich das Kommunikationsverhalten völlig verändert. Die Studien der Harvard Business School und der DAK-Krankenkasse von 2020 bestätigen dies: Heimarbeit im Alltag bedeutet mehr Meetings und Konferenzen. Während vorher nur jeder Sechste virtuell konferierte, ist es nun jeder Dritte, der mehrmals pro Woche oder sogar täglich an Telefon- oder Videokonferenzen teilnimmt. Der schriftliche Kontakt nimmt ebenfalls zu – und damit die Zeit, die wir arbeiten. Die Realität im Homeoffice ist Dauererreichbarkeit und Arbeiten am Feierabend. Eine aktuelle Studie von Capterra aus dem Jahr 2021 dokumentiert, dass die Hälfte der Mitarbeiter vor oder nach den Arbeitszeiten berufliche Anrufe beantwortet und auch am Wochenende arbeitet.

Die Folge: Der Trend zum Home- und Mobileoffice verstärkt das Gefühl, dauernd verfügbar oder im Einsatz zu sein. Das Stresslevel erhöht sich und die Gefahr eines digitalen Burn-outs wächst. Dies bestätigen Experten wie der Marburger Informatikprofessor Alexander Markowetz. Die Zeit der Lockdowns hat ein weiteres Phänomen hervorgebracht: „Zoom-Fatigue“. Benannt nach einem bekannten US-Softwarekonzern, tritt das Syndrom bei häufigen Teilnahmen an Videokonferenzen auf. Der Grund hierfür ist, dass Videokonferenzen anstrengend sind und müde machen.

Digitale Arbeit als arbeitsrechtliche Grauzone

„Die zunehmende Erschöpfung von Menschen in der Arbeitswelt ist ein Stoppschild – mehr geht nicht“, sagt Anja Piel, Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Bezugnehmend auf den aktuellen Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), verlangt sie eine Anti-Stress-Verordnung und somit das Recht auf Nichterreichbarkeit. Denn anders als etwa in Frankreich gibt es in Deutschland kein gesetzliches Recht zum ‚Abschalten‘. Das Arbeitszeitgesetz und das Bundesurlaubsgesetz schützen Arbeitnehmer zwar durch klare Festlegung der Arbeitszeiten, besonders bei Nachtarbeit, an Sonn- und Feiertagen sowie im Urlaub. Das gilt für Mitarbeiter und Führungskräfte gleichermaßen: Freizeit und Urlaub sind arbeitsfreie Zeit – außer es ist vertraglich anders vereinbart, etwa in Form von erweiterter Erreichbarkeit. Arbeitsrechtlich aber bleibt die „digitale Arbeit“ eine Grauzone: Arbeitet man, wenn man eine E-Mail im Urlaub liest und beantwortet oder nach Feierabend freiwillig berufsbezogene Zoom-Meetings besucht?

Das deutsche Arbeitsrecht hinkt der digitalisierten Realität 4.0 in Form von Entwürfen hinterher: Der Expertenbeirat zum Beschäftigtendatenschutz, den das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Empfehlung eines Gesetzesentwurfes bestellte, korrigierte die Präsentation seiner Stellungnahme von Dezember 2020 auf April 2021 – aktuell ohne Abschlussbericht. Das EU-Parlament votierte am 21. Januar 2021 bislang lediglich für eine Initiative zur Gesetzgebung der europäischen Kommission zum Recht auf Nichterreichbarkeit. Faktische Änderungen im Arbeitsrecht durch digitale Transformation? Fehlanzeige.

Digitale Arbeitsethik

Klare Leitlinien sind also gefragt, wenn die digitale Dauerverfügbarkeit am Feierabend bis an den Abendbrottisch oder gar an die Bettkante reicht. Verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, werden die Defizite und mit ihr die aktuelle Herausforderung deutlich – für Arbeitgeber genauso wie für deren Mitarbeiter. Für Selbstständige im Handwerk ist diese Trennung von Job und freier Zeit jedoch oft nicht umsetzbar.

Fragen der Arbeitsethik können hilfreich sein. Digitalisierte Arbeitsprozesse erfordern Verantwortungsbewusstsein bei allen Beteiligten. Die Herausforderung besteht darin, praktikable Leitlinien zu erarbeiten, unabhängig von subjektiver Arbeitsmoral. Die Bertelsmann-Stiftung etwa versucht eine Klärung im Tagungsband ‚Verantwortung im digitalen Wandel‘ 2020. Diskutiert wird eine neue Form der digitalen Verantwortung, genannt Corporate Digital Responsibility (CDR). Orientierung kann über ethische Werte und Konzepte der Unternehmensethik erfolgen wie Corporate Social Responsibility (CSR), also unternehmerische Sozial- und Gesellschaftsverantwortung.

Praktische Umsetzung

Was bedeutet das praktisch für Unternehmer und deren Verantwortung in der digitalen Welt? Nichterreichbarkeit sollte ein Grundrecht sein, das untrennbarer Bestandteil der neuen Arbeit im digitalen Zeitalter ist. Handwerksbetriebe können Mitarbeiter entlasten, indem sie deren Privatsphäre achten und dafür die entsprechenden – auch digitalen – Voraussetzungen in der Unternehmensorganisation schaffen, so durch cloudbasierte Lösungen mit ERP (Enterprise-Resource-Planning)-System. Dazu zählt unter anderem auch, klare Verhaltensregeln zu definieren und diese individuell zu vereinbaren: Etwa keine Meetings außerhalb der Arbeitszeit ansetzen, dem Arbeitnehmer klar kommunizieren, dass keine Erwartungshaltung zu Mehrarbeit besteht, und Kurse zu Stressbewältigung oder einen Gesundheitstag anbieten.

Über die Entgrenzung herkömmlicher Arbeitsstrukturen und hybride Lösungen konstatiert Jutta Rump, Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen am Rhein sowie Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE): „Nach der Corona-Krise kehren wir nicht in die alte Welt zurück, sondern praktizieren hybride Arbeitsmodelle. Wir brauchen das Beste aus beiden Welten, der analogen und der digitalen.“

Digitalisierung im Handwerk

Der Übergang von der physischen zur digitalen Arbeit verändert auch das Handwerk nachhaltig. Zu persönlichen Kontakten werden verstärkt digitale Wege der Kommunikation und Organisation beschritten. Da Handwerksbetriebe vor Ort im Einsatz sind, nutzen sie weniger Home- als vielmehr Mobileoffice: ein gesetzlich nicht geregeltes Arbeitsverhältnis, bei dem der Arbeitnehmer seinen Arbeitsort frei wählen und von wechselnden Orten aus tätig sein kann, wie im Baugewerbe. Der „mobile Monteur“ etwa kann sein Büro in der Tasche tragen und hat von unterwegs Zugriff auf sein „mobiles Büro“ über eine App.

Laut der Kommunikationsplattform Twilio hat COVID-19 die digitalen Kommunikationsstrategien von Unternehmen in Deutschland um durchschnittlich 7,2 Jahre beschleunigt. Oliver Eismann, stellvertretender Projektleiter des Kompetenzzentrum Digitales Handwerk in Bayreuth, sieht in der Digitalisierung die Zukunft für das Handwerk: „Ein digital gut organisiertes Unternehmen ist das A und O: Digitalität im Griff, Betrieb im Griff.“ Wilhelm Scheuerlein, Leiter der Betriebsberatung der Handwerkskammer Mittelfranken, attestiert digitalisierten Arbeitsformen auch einen klaren Vorteil: „Mobiles Arbeiten und digitale Auftragsabwicklung sind effiziente Formen der Organisation für Unternehmen im Handwerk. Mobile Kommunikation fördert die bestehende Nähe von Menschen im Handwerk zusätzlich.“

Walter Stuber praktiziert bereits das Beste aus beiden Welten, der analogen und der digitalen: Für Kundenanfragen außerhalb der Geschäftszeiten hat der Unternehmer eine 24-Stunden-Hotline geschaltet. Bei Video-Meetings nach Feierabend und am Wochenende macht er nicht mehr mit. „Downshifting“ heißt die Zauberformel: Die Eingrenzung von Arbeit für ein selbstbestimmtes Leben mit persönlichem Freiraum.

5 Praxistipps: So trennen Sie Beruf und Privatleben

Finden Sie Lösungen, wie Sie für sich und Ihre Mitarbeiter Arbeit und Privatleben sinnvoll trennen und organisieren.

  1. Klare Trennung zwischen Arbeit und Privatleben vornehmen
    Klare Arbeitsstrukturen/-bereiche beachten: Fester Arbeitsbeginn und -ende, beispielsweise keine Meetings außerhalb der Arbeitszeit ansetzen, auf Erholungsphasen achten: Pausen in Arbeitstag einbauen; Wochenenden
  2. Technische Voraussetzungen für Remote-Arbeit schaffen
  3. Kommunizieren Sie regelmäßig mit Ihren Mitarbeitern beispielsweise in Team-Meetings und Feedback-Gesprächen
    Wichtig: Dem Arbeitnehmer klar kommunizieren, dass keine Erwartungshaltung zu Mehrarbeit besteht
  4. Von der Anwesenheitskultur zur Ergebniskultur: Vertrauen Sie Ihren Mitarbeitern und lassen Sie Spielräume zu. Seien Sie nahbar und verständnisvoll
  5. Kurse zu Stressbewältigung, Gymnastik oder einen Gesundheitstag anbieten

Zoom-Müdigkeit: Lösungsvorschläge für Chefs

Die Studie „Zoom-Fatigue als neuer Risikofaktor“ nennt Lösungen, wie man Belastungstreiber für Erschöpfungssympotome durch virtuelle Kommunikation im Arbeitsalltag verhindert.

LösungsvorschlägeHäufigkeit der genannten Maßnahmen
Begrenzung der Meeting-Zeit71,8 %
Humorvolle Moderation62,6 %
Pausen zwischen den Meetings61,7 %
Künstliche Pausen in den Meetings50,9 %
Moderation, die alle Teilnehmer mit einbezieht50,3 %
Anpassung des Arbeitsplatzes40,8 %
Tools, die einen „Together Mode“ anbieten36,5 %
Balance zwischen Video- und Audio-Konferenzen36,2 %
Zeitslots für die Themenfelder im virtuellen Meeting34,4 %
Stärkere Begrenzung der Teilnehmerzahl32,5 %
Tools, die die Blickrichtung einer Person korrigieren17,2 %
Quelle: Studie „Zoom-Fatigue als neuer Risikofaktor“ Institut für Beschäftigung und Employability IBE Ludwigshafen am Rhein, Befragungszeitraum: September 2020/Dezember 2020