Dagmar Gesmann-Nuissl im Interview Legal Tech: Ersetzt künstliche Intelligenz künftig den Anwalt?

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Handwerksbetriebe, die sich mit Rechtsfragen und Verträgen auseinandersetzen, können heute auf eine Vielzahl von Legal Tech-Anwendungen zugreifen. Das birgt viele Chancen, aber auch Risiken. Im Interview erklärt Prof. Dr. Dagmar Gesmann-Nuissl, Lehrstuhlinhaberin Privatrecht und Recht des geistigen Eigentums an der TU Chemnitz und Mitglied des Mittelstand Digital Zentrums, was Chefs von Legal Tech erwarten können, und welche Grenzen solche Anwendungen haben.

Digitalisierung erleichtert die Abläufe in den Kanzleien.
Digitalisierung erleichtert die Abläufe in den Kanzleien. - © khunkorn - stock.adobe.com
Die Digitalisierung schreitet voran und hält auch nicht an, wenn es um juristische Fragestellungen geht. Wie verändert sich die juristische Arbeit der Kanzleien im Zusammenspiel mit mittelständischen Handwerksbetrieben?

Nun, jetzt kann ich natürlich nicht aus der Perspektive einer Anwaltskanzlei sprechen, da ich einen Lehrstuhl an der TU Chemnitz verantworte. Dennoch glaube ich, dass auch die Arbeit der Kanzleien im Zusammenspiel mit ihren Klienten einer Transformation unterliegt. Klassische Abläufe, die früher durch Formulare administrativ begleitet wurden, haben sich mittlerweile digitalisiert. Software unterstützt die tägliche Arbeit der Kanzleien auch im Zusammenspiel mit der Mandantschaft. Hierdurch lassen sich vor allem Arbeitsabläufe beschleunigen, aber auch Fehler – die meist durch Menschen erfolgen – vermeiden. Ferner hat sich doch gerade in den letzten beiden Corona-Jahren gezeigt, dass moderne Formen der Kommunikationstechnologie durchaus dazu beigetragen konnten, die massiven Einschränkungen, die auf der Ebene der persönlichen Kontakt hinzunehmen waren, zu überwinden.

Wo macht die Digitalisierung den juristischen Alltag leichter, wo wird es für Kanzleien und ihre Unternehmer-Mandanten schwerer?

Digitalisierung erleichtert, wie gerade ausgeführt, die Abläufe in den Kanzleien. Das kann damit beginnen, dass vor einem Beratungsgespräch ein Kanzlei-Chatbot über standardisierte Fragen einen Anrufer zu dem richtigen Fachkollegen leitet; dass Software bei der Dokumentenerstellung, -analyse bis hin zur Formulierung von Schriftsätzen in Massenverfahren unterstützt. Aber auch, dass Informationen – beispielsweise zu einem Unternehmenskauf – zusammengeführt, in einer Cloud abgelegt sowie gemeinsam und rechtssicher mit dem Mandanten und weiteren Dienstleistern, wie Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer bearbeitet werden können – selbst aus dem Homeoffice heraus. Ferner gibt es z.B. Programme, die automatisierte Bewertungen von Assets in Vorbereitung z.B. einer Due Dillegence-Prüfung oder für Jahresabschlüsse ermöglichen und vieles mehr – nahezu für alle administrativen anwaltliche Bereiche gibt es spezielle Software und IT-Lösungen.

Wo wird es schwerer? Sicher wird man sagen können, dass je mehr Digitalisierung in die Kanzlei einzieht und je mehr sich die Anwälte mit ihrer originären Beratungsleistung zurücknehmen, es für sie schwieriger wird, sich von reinen Legal-Tech-Dienstleistern abzugrenzen. Das sind Unternehmen, deren Geschäftsmodell ausschließlich darin besteht, automatisierte Rechtsdienstleistungen, insbesondere Inkassoleistungen anzubieten. Etwa Internetportale, die mittels Generatoren

  • Mietminderungen berechnen und einfordern (wenigermiete.de),
  • Bußgeldbescheide formal überprüfen (myright)
  • Schmerzensgeldansprüche berechnen und durchsetzen (vinqo.de).
In Sachen Flugrechte oder Dieselskandal sind Legal Tech Anwendungen gewissermaßen gesellschaftsfähig geworden. Ist dies die Zukunft?

Nein. Es gibt sicher Bereiche, wo diese Legal-Tech-Dienstleistungen ihre Berechtigung haben; sie setzen z.B. unstreitige Forderungen durch. Allerdings ist in vielen Bereichen auch weiter eine rechtliche Beratung, also das persönliche Rechtsgespräch zwischen dem Mandanten und dem Anwalt erforderlich. Denken Sie nur an das Aufklären eines streitigen Sachverhalts, dem Ermitteln von Befindlichkeiten zwischen Vertragspartnern oder dem Ausloten von unterschiedlichen Verhandlungspositionen, die vielleicht eine Annäherung erfordern, um am Ende das richtige Ergebnis für beide Parteien in einem Vertrag abzubilden. Das sind nur wenige Beispiele die verdeutlichen, dass die beratende anwaltliche Tätigkeit auch in der Zukunft nicht verzichtbar ist.  

Neue Gesetze und Verordnungen machen es Unternehmern schwer, den Durchblick zu bewahren. Denken Sie etwa an die DSGVO, aber auch das Lieferkettengesetz, von dem auch kleine Betriebe als Zulieferer mittelbar betroffen sein können, weil große Unternehmen die Vorgaben weiter reichen. Auch das Hinweisgeberschutzgesetz ist in der betrieblichen Umsetzung nicht leicht (auch wenn kleine und mittlere Handwerksbetriebe erst einmal außen vor bleiben sollten) – um nur einige Beispiele zu nennen. Können Legal-Tech-Anwendungen hier überhaupt für Rechtssicherheit sorgen?

Hier sprechen Sie einen weiteren Bereich an, nämlich die Informationsfülle und die Verwobenheit des Rechts. Es reicht eben nicht, die Pflichten eines Gesetzes abzubilden und daraus Prozessrisiken oder Ansprüche abzuleiten. Die Fähigkeiten eines Anwalts besteht doch gerade darin, in seinem Rechtsgebiet den Gesamtüberblick zu behalten, neue Rechtsregelungen aufzunehmen, sie im Zusammenspiel mit anderen einzuordnen und dann – im Gesamtkontext - die richtigen Maßnahmen für die Mandantschaft abzuleiten. Dafür wird der Anwalt auch ausgebildet – er muss diese Fähigkeiten nachweisen. Für das Legal-Tech-Unternehmen reicht der Zuverlässigkeitsnachweis und die Inkassolizenz aus – das ist ein qualitativer Unterschied.

Wie gehen Handwerksbetriebe vor, um die passende Legal-Tech-Anwendung für sich und ihren Betrieb zu finden? Gibt es Anbieter, die Sie uneingeschränkt empfehlen können?

Wenn ein Handwerksunternehmen beispielsweise unstrittige Forderungen durchsetzen möchte, genügt schon das elektronische Mahnverfahren – das hilft meistens. Geht es um die Projektverwaltung, Auftragsabwicklung, Vertragsmanagement, Zeiterfassung u.s.w. gibt es einige Anbieter, die spezielle Software für Handwerksbetriebe bereithalten – sogar Gewerke-spezifisch. Seriöse Anbieter findet man im Internet, aber auch die Handwerksverbände oder Handwerkskammern können da sicher Tipps geben. Eine Empfehlung würde ich nicht aussprechen wollen.   

Mit welchen Grenzen müssen kleine und mittelständische Betriebe bei solchen Lösungen rechnen?

Wie bereits angesprochen, nehmen solche Lösungen typische Konstellationen auf und bilden sie mittels Algorithmen ab. Man kann auch einzelne Parameter – wie übliche Wochenarbeitszeit, Gewerkearten, Mitarbeiteranzahl etc. einstellen. Sie sind aber nicht oder nur bedingt in der Lage, individualisiert auf Veränderungen bei der Vertragsabwicklung oder Besonderheiten bei der Projektabwicklung zu reagieren, wenn diese Veränderungen vom Typischen – also dem Vorprogrammierbaren – abweichen.

Auch Anwaltskanzleien bieten Muster-Formulare und Tools an – sind sie Legal Tech-Anbietern vorzuziehen?

Auch das würde ich nicht pauschal beantworten wollen – das kommt auf den Verwendungszweck des Tools an. Sicher ist aber, sollte das Software-Tool einer Kanzlei bei dem individuellen Problem nicht weiterhelfen, steht dem Unternehmen jedenfalls der Anwalt hilfreich zur Seite.

Häufig dürfte das Problem sein, dass jede Anwendung für sich ihre Berechtigung hat, aber womöglich die monatlichen Kosten für kleine Betriebe zu hoch sind? Bleibt also doch nur der Anwalt – oder ist Legal Tech unterm Strich günstiger?

Das kommt ebenfalls auf den Verwendungszweck an – geht es z.B. nur um die Auftragsannahme oder die Terminverwaltung mittels eines Chatbots, kann die Software-Lösung günstiger als das Sekretariat sein. Das wäre auch keine Aufgabe, die der Anwalt miterledigen würde. Geht es dagegen darum, in allen Rechtsfragen, die in einem Handwerksbetrieb anfallen können, jederzeit gut beraten zu sein, wird der Anwalt die richtige Wahl sein, der seine Dienstleistungen am Ende auch nur nach Arbeitsaufwand abrechnet.  

Stichwort Elektronischer Rechtsverkehr – es heißt ja immer, Deutschland sei auf dem richtigen Weg, aber längst nicht da, wo es stehen sollte: Wie ist der Status quo Ihrer Meinung nach? Und welche Erfahrungen machen Unternehmer, die ja ebenfalls gefordert sind, gegenüber den Behörden elektronisch aufzutreten?

Sofern der elektronische Rechtsverkehr dazu dienen kann, die Kommunikation mit den Behörden zu erleichtern dann kann man das nur begrüßen. Zum Teil funktioniert das schon, wie etwa bei der Abgabe von Steuererklärungen, dem E-Invoicing. Aber „ja“, hier kann man sicher weitere Erleichterungen auch für Handwerksbetriebe schaffen – denken Sie z.B. an die Meldungen gegenüber Krankenkassen, das Erfassen und Abrechnen von energetischen Verbräuchen, dem Digitalisieren von oftmals notwendigen Gebäudeinformationen.

Geben Sie bitte einen kurzen Ausblick in die Zukunft. Wo wird sich das Thema Legal Tech hin entwickeln? Oder handelt es sich um einen Hype, der – etwas salopp gesprochen - längst wieder am Abflauen ist?

Legal Tech hat seine Berechtigung in den standardisierten Abläufen und sicher werden über die bisher erfassten und digital begleiteten Geschäftsprozesse weitere hinzutreten.  Man wird – auch durch die Weiterentwicklung der zugrundeliegenden Technologien und dem Nutzen von KI – phantasievoll genug sein, weitere Geschäftsprozesse zu digitalisieren und zu automatisieren. In welcher Weise sich die Handwerksbetriebe das eine oder andere Tool dann zu eigen machen, hängt von den individuellen Bedarfen des Unternehmens ab. Allerdings wird Legal Tech – und das ist wohl deutlich geworden – die anwaltliche beratende Tätigkeit nicht ersetzen – es wird vielmehr zu einer Koexistenz kommen.

Vita Professor Dr. Dagmar Gesmann-Nuissl

Professor Dr. Gesmann-Nuissl, Lehrstuhlinhaberin Privatrecht und Recht des geistigen Eigentums an der TU Chemnitz und Mitglied des Mittelstand Digital Zentrums
© privat


Professor Dagmar Gesmann Nuissl ist Lehrstuhlinhaberin für Privatrecht und Recht des geistigen Eigentums an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Technischen Universität Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte - unter anderem für das Mittelstand-Digital Zentrum Chemnitz – liegen im Unternehmens-, Innovations- und Technikrecht.