Die Baumann-Kolumne "Neues von der Werkbank" Kommentar: In Sachen Rohstoffmangel sind wir gefangen in Ketten – in Lieferketten!

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Baustoffe, Coronavirus und Neues von der Werkbank – Kolumne von Ruth Baumann

Die Pandemie zeigt uns jeden Tag schmerzlich und eindrücklich aufs Neue, wo Sand im Getriebe der Politik oder der Verwaltung ist: "Wer Nachhaltigkeit in Abhängigkeit sucht, gefährdet Marktwirtschaft und Versorgung", betont unsere Kolumnistin Ruth Baumann, Präsidentin der Unternehmerfrauen im Handwerk (ufh) Baden-Württemberg. Es sei nicht damit getan, Versorgungsengpässe zu benennen, wenn zugleich nichts dagegen unternommen werde.

Ruth Baumann, Landesvorsitzende ufh Baden-Württemberg
Die studierte Politologin und Handwerksunternehmerin Ruth Baumann vertritt seit 2008 als Präsidentin die Unternehmerfrauen im Handwerk in Baden-Württemberg (ufh). - © Antoinette Steinmüller Fotostudio

Mitte letzten Jahres ging ich in eine Apotheke und wollte „auf die Schnelle“ Kopfschmerztabletten kaufen. Ein Vorgang, der bis dahin, keiner besonderen Erwähnung wert war. Wie groß war mein Erstaunen, als mir die freundliche Apothekerin mitteilte, dass aufgrund von Lieferengpässen aktuell nur eine Packung pro Person verkauft werden kann. Der Gedanke, dass Dinge des alltäglichen Lebens limitiert sein könnten oder sogar müssen, war mir bis dato fremd.

Problematische Lieferketten wohin man sieht

Der Kopfschmerztablette folgte die Maske, der Impfstoff, die Tests. Allmählich realisierte ich, dass auch weitere Medikamente längst nicht mehr in Deutschland hergestellt werden. Ein ähnliches Bild offenbarte sich bei Lebensmitteln. Vieles wird importiert, weil man, durch jahrelanges Auslagern von Produktionsstätten und funktionierenden Lieferketten, den regulierten und teuren Produktionsstandort Deutschland umgehen wollte und auch konnte. Den CO2-Fußabdruck von Äpfeln aus Australien nahm man ohne schlechtes Gewissen in Kauf, während sich beispielsweise der Bodensee als regionale Erzeugerregion an marktkonformen Preisen abarbeitete.

Ein Mangel an Materialien, der alle etwas angeht

Aktuell regnet es nun von allen Seiten Informationen, welche Güter knapp oder mittlerweile gar nicht mehr lieferbar sind. Nach Preisen, die für einen Tag Gültigkeit haben, sind wir mittlerweile schon bei stündlichen Preisänderungen. Kannten wir das bisher nur bei Kraftstoffen wie Benzin, lernen wir nun, dass dies auch bei Baumaterialien möglich ist. Baustahl, Dämmstoffe und Holz sind es aktuell, doch die Aufzählung kann ebenfalls stündlich aktualisiert werden. Kurzarbeit war bisher ein Mittel, um Arbeitsplätze und Betriebe bei Auftragsengpässen zu retten. Aktuell müssen jedoch ganze Gewerbe Kurzarbeit beantragen, weil ihnen, bei vollen Auftragsbüchern, schlicht die Materialien fehlen. Bevor Sie jetzt sagen, das betrifft mein Gewerk aber nicht und sich entspannt zurücklehnen, möchte ich Sie warnen. Woher kommen die Schafsdärme, in der wir unsere Wurst abfüllen? Wie verpacke ich angesichts des ab Juli geltenden Verbots von Einweg für Tüten, Becher, usw. meine Waren, wenn der Rohstoff Papier fehlt? Denn mitgebrachte, eigene Mehrwegverpackungen sind aufgrund der Pandemiebestimmungen nicht erlaubt. Kekse, Kaffee und Süßigkeiten stapeln sich normalerweise in den Regalen der Lebensmittelläden. Ohne Verpackung dürfte es allerdings schwer werden. Spätestens bei den gelben Säcken aus Asien, Zeugen des moralischen Ablasshandels bei der Mülltrennung, merken auch Sie, dass Sie bei den Lieferketten mit im Boot sitzen.

Politiker müssen eigenen Appell (besser) vorleben

Wir sind gefangen in einem Konstrukt, das wir selbst durch unreflektiertes Handeln verursacht haben. Die, in meinen Augen, laxen Antworten der Politik (Lieferkettengesetz, Dokumentationspflichten, Verbote) zeigen mehr Hilflosigkeit, denn Lösungsansätze. Durch die „Bin-ich-billig-dran-gekommen“-Mentalität haben wir unsere Versorgungsstrukturen nicht nur gefährdet, sondern letzten Endes geopfert. Der Preisdruck trieb viele Unternehmen mit ihren Produktionsstätten ins Ausland. Politiker machen es sich sehr einfach, wenn sie nun an Unternehmer appellieren bzw. es sogar von ihnen fordern, dass umgedacht werden muss und Lieferketten zu verkürzen sind. Leben sie es denn vor? Bei öffentlichen Vergaben erhält das billigste und nicht das preisgünstigste Angebot den Auftrag. Laut VOL (Vergabe- und Vertragsordnung für Lieferungen) und VOB (Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen) wäre eine andere Vorgehensweise möglich. Bei gelben Säcken aus China und Pflastersteinen aus Vietnam sind der CO2 Ausstoß und die angestrebten kurzen Lieferketten nicht mehr von großem Interesse. Das Holzaufkommen, auch aus Staatswäldern, wird teuer exportiert, während der „nachhaltige“ regionale Markt brachliegt. Als Verfechterin der Marktwirtschaft scheue ich mich vor staatlichen Eingriffen in den Markt. Als Unternehmerin kann ich mich aber nicht damit abfinden, dass es meine Aufgabe sein soll, Lieferketten zu dokumentieren und zu verkürzen, während Politik den einheimischen Markt zu Tode reguliert und sehenden Auges Betriebe und Bürger in eine Abhängigkeit von Lieferketten getrieben werden.

Die schiere Endlosigkeit der Lieferketten und ihre Folgen

Unternehmen und Verbraucher können nur dort etwas einkaufen, wo es auch etwas zu kaufen gibt. Diese Erfahrung hat man doch auch bei der Beschaffung von Masken, Tests und Impfstoff gemacht, oder? Was nützen Innovationen aus dem Land der Tüftler und Denker, wenn deren Marktreife nur durch endlose Lieferketten realisiert werden können? Wir erfinden Produkte, um diese dann – mit entsprechender Wartezeit – irgendwo teuer einkaufen zu müssen. Wie viele Ministerien müssen koordiniert werden, um selbst in einer Pandemie Güter (z.B. Masken) schnell einkaufen zu können? Sind wir endlich dazu bereit, die Konsequenzen aus den Erfahrungen mit falschen Zertifikaten, geplatzten Lieferterminen und nicht gelieferten Waren zu ziehen? Angebot und Nachfrage bedingen sich gegenseitig und sind Basis der Preisbildung. Ist der Markt leergefegt, drohen Mondpreise und Versorgungsengpässe. Wer nur das aktuelle, laute Klagen unterschiedlichster Marktteilnehmer in seine Mandatsarbeit „mitnimmt“ (so letzte Woche in einer Videokonferenz), sich aber nicht um Lösungen kümmert, hat den Ernst der Situation noch nicht verstanden. Manch enttäuschter Bürger und Wähler sieht sich in seinem Eindruck bestätigt, dass zu viele Akteure in ihren ach so wichtigen Positionen in guten Zeiten überflüssig und in schlechten überfordert sind.

Vom Wunsch einer dauerhaft funktionierenden Versorgung

Lange Lieferketten entstehen nicht, weil Betriebe dies wollen, sondern weil sie die Rahmenbedingungen hierzu zwingen. Lange Lieferketten entstehen aus Ignoranz um das Wohl und Weh von Wirtschaftsstandorten oder der Weigerung, Leistung und entsprechenden Preis in Relation zueinander zu sehen. Lösen wir also endlich unsere Ketten. Dokumentationspflichten beim Schwarzer-Peter-Spiel beruhigen nur das Gewissen, aber sorgen nicht für produktive Arbeitsplätze und volle Regale. Wer vom Volk gewählt wurde, um Schaden abzuwenden, sollte sich schleunigst darum kümmern, dass die Versorgung dauerhaft funktioniert und der Treibstoff für den Start des Wirtschaftsmotors vorhanden ist. Denn Worthülsen, Papier und Absichtserklärungen reichen hierfür nicht aus.