Nachhaltige Bauweise Interview mit Michel Durieux und Carsten Benke: So effizient sind nutzungsgemischte Quartiere

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Energieeffizienz, Nachhaltigkeit, Restaurierung und Standortwahl

Wohnen hier, arbeiten dort. Stadtviertel, die nachverdichtet oder wiederbelebt werden, sollen das Pendeln zwischen Zuhause und Arbeit überflüssig machen. Wie das gelingen kann, erklären Michel Durieux, Referatsleiter Energiepolitik und Energieeffizienz, und Carsten Benke, Referatsleiter Regional- und Strukturpolitik beim Zentralverband Deutsches Handwerk (ZDH) im Interview.

Gewerbegebiet Greifswald, nutzungsgemischtes Quartier
Bisher unattraktive Quartiere können als nutzungsgemischtes Quartier wiederbelebt werden. Das Ziel ist eine funktionsgemischte Stadt, in der Alltag und Beruf nah beisammen liegen. - © fotograupner - stock.adobe.com
Der Zentralverband Deutsches Handwerk (ZDH) empfiehlt mehr nutzungsgemischte Quartiere zu schaffen: Welche Vorteile hat das?

Carsten Benke: In den vergangenen Jahren gab es einen verstärkten Zuzug in die Ballungsräume, wodurch Konkurrenzen um Flächen entstehen. Stadtteile müssen nachverdichtet werden. Das kann dazu beitragen, dass die Attraktivität von Quartieren steigt. Allerdings führt die Nachfrage nach – zumeist hochpreisigen Wohnungen – auch dazu, dass weniger zahlungskräftige private und gewerbliche Mieter verdrängt werden und bestehende handwerkliche Standorte eine Umnutzung erfahren. Das Ziel sollte aber eine funktionsgemischte Stadt sein, in der Alltag und Beruf näher beisammen liegen und somit unnötige Verkehre verhindert werden. Welche Vorteile solch eine Stadt der kurzen Wege hat, das hat die Corona-Pandemie gezeigt. Hier brauchen wir ein Umsteuern.

Wie können solche funktionsgemischten Stadtteile konkret aussehen?

Während Bürogebäude abends und nachts ausgestorben sind, sind Wohnviertel tagsüber eher verwaist. Auch viele Einkaufslagen sind monofunktional. Indem Alltag und Arbeit in nutzungsgemischten Quartieren stärker miteinander verzahnt werden, entstehen nicht nur insgesamt attraktivere und vielgestaltigere Lebensräume, sondern die Flächen und Infrastrukturen, die bisher über den Tag eher ungenutzt sind, werden besser einbezogen und genutzt. Außerdem können die unterschiedlichen Nutzungsphasen der Gebäude in der Entwicklung energetischer Quartiers- und Gebäudekonzepte einfließen: Wenn zum Beispiel tagsüber in der Werkstatt gearbeitet wurde, kann die Wärme abends in der Wohnung im Quartier zum Duschen genutzt werden. Die Städte werden nachhaltiger.

Carsten Benke, Referatsleiter Regional- und Strukturpolitik beim Zentralverband Deutsches Handwerk (ZDH).
Carsten Benke, Referatsleiter Regional- und Strukturpolitik beim Zentralverband Deutsches Handwerk (ZDH). - © ZDH
Apropos Werkstatt: Nutzungsgemischte Quartiere sollen laut ZDH auch Handwerksbetriebe beheimaten. Warum ist das so wichtig?

Für Betriebe sowie Beschäftigte und Auszubildende im Handwerk ist Arbeits- und Wohnraum in dicht besiedelten Ballungszentren oft zu teuer, häufig stehen einer Ansiedlung von Betrieben auch baurechtliche oder emissionsschutzrechtliche Vorschriften entgegen. In der Folge werden immer mehr Betriebe in weit entfernte Gewerbegebiete ausgelagert. Dies führt dazu, dass immer mehr der handwerklichen Dienstleistungen, die dringend gebraucht werden, nicht unmittelbar vor Ort verfügbar sind und längere Anfahrtszeiten erfordern. Dies steht wiederum dem Gedanken einer Stadt der kurzen Wege entgegen. Nutzungsgemischte Quartiere würden zu kurzen Wegen beitragen. Und wir brauchen immer mehr Handwerk vor Ort: Die älter werdende Bevölkerung fragt mehr Leistungen in ihren Wohnungen nach oder möchte – etwa bei den Gesundheitshandwerken – die Dienstleistungen wohnortnah wissen, es gibt mehr Interesse an hochwertig verarbeiteten Produkten aus dem Lebensmittelhandwerk oder bei Wohnungseinrichtungen, wir wollen mehr Kreislaufwirtschaft und Reparaturdienste um die Ecke, die Smart City muss gewartet werden und nicht zuletzt die Energiewende braucht Experten vor Ort.

Michel Durieux: Dabei ist aus Sicht des Handwerks völlig klar, dass nicht an jedem Ort alle Formen der Mischung möglich sind: Der Gesundheitsschutz muss immer gewährleistet sein. Nicht jeder Handwerksbetrieb kann Wand an Wand mit Wohnungen angesiedelt werden. Und es macht auch keinen Sinn, immer stärker mit Wohnnutzungen an emittierende Betriebe heranzurücken, denn auch die Unternehmen brauchen Planungssicherheit. Wir benötigen deshalb intelligente Mischungskonzepte: Von gewerblichen Standorten in den Erdgeschosszonen und in Hofbereichen über eigene Gewerbegrundstücke und kleinteilige Gewerbegebiete bis hin zu neuen Handwerkerhöfen: Je nach Größe und Störungsgrad ist eine andere Körnigkeit der Mischung zu wählen.

Welche Vorteile hätten denn solche Quartiere?

Ein Punkt ist die verstärkte Sichtbarkeit des Handwerks. In einem nutzungsgemischten Quartier kämen Schülerinnen und Schüler, die noch vor der Berufswahl stehen, mit Gewerken und Berufen in Berührung und bekämen einen Eindruck von diesem Berufsfeld. Wenn sie sehen, wie beispielsweise im Elektro-, Tischler- oder Bäckerhandwerk gearbeitet wird, könnte das eine Motivation sein, eine Ausbildung im Handwerk zu starten. Die Betriebe könnten Workshops anbieten und jungen Menschen zeigen, wie sich mit Holz umgehen lässt, wie man sein Fahrrad repariert oder aus Stoff ein Kleid näht – und somit die Lust auf handwerkliche Tätigkeiten nähren. Denn in den Schulen fehlen solche Praxiskomponenten heute oft. Und sollte die Entscheidung für das Handwerk fallen, wäre in einem nutzungsgemischte Stadtquartier der Ausbildungsplatz direkt vor der Haustür.

Michel Durieux, Referatsleiter Energiepolitik und Energieeffizienz bei Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH)
Michel Durieux, Referatsleiter Energiepolitik und Energieeffizienz bei Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) - © ZDH
Wie lassen sich solche Quartiere kostengünstig umsetzen?

Die rückläufige Nachfrage nach Handelsflächen und auch nach Büros in den Innenstädten bietet Chancen, Standorte des Handwerks und anderer Wirtschaftsbranchen wieder vermehrt in der Innenstadt anzusiedeln und damit auch zur Stabilität und Lebendigkeit der Quartiere beizutragen. Dafür braucht es eine aktive Stadtentwicklungspolitik der Kommunen, die gemeinsam mit Immobilieneigentümern und den Vertretern der Wirtschaft neue Konzepte umsetzen. Die Städtebauförderung des Bundes sollte diese Aktivitäten in der aktuellen Krisensituation stärker flankieren. Insgesamt brauchen wir effizientere Planungs- und Genehmigungsprozesse, um die Innenstädte als attraktive Lebens- und Arbeitsorte dauerhaft zu sichern. Für die Betriebe und damit auch ihre Kunden würden kürzere betriebliche Anfahrtswege dazu beitragen, Kosten zu verringern.