Flexible Arbeitsgestaltung im Handwerk 4-Tage-Woche im Handwerk: Schluss mit teuren Überstunden und schlechter Stimmung

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Einen Tag weniger arbeiten und trotzdem genauso produktiv sein? Die Erfahrungen mit der Vier-Tage-Woche im Handwerk zeigen, dass diese nicht nur für mehr Motivation und bessere Stimmung im Team sorgt, sondern in vielen Fällen sogar die Produktivität erhöht. Flexibles Arbeiten klappt auch im Handwerk prima – wenn die Chefs es zulassen.

Sascha Rathje, Zimmerer- und Dachdeckermeister in Wedel
Sascha Rathje, Zimmerer- und Dachdeckermeister in Wedel, freut sich mit seinem Team über eine bessere Work-Life-Balance durch die Vier-Tage-Woche. - © Jörg Brockstedt

Ende letzten Jahres hatte Dachdecker- und Zimmerermeister Sascha Rathje im norddeutschen Wedel genug: „Das ständige Kämpfen um Überstunden und Wochenendarbeit hat die Stimmung im Team enorm belastet und die Mitarbeiter waren unzufrieden“, erzählt der Chef von 14 Mitarbeitern. Doch wie lässt sich das ändern in einer Branche, die nun mal in der wärmeren Jahreszeit generell viel zu tun hat, zumal, wenn man sich wie Rathje als Komplettanbieter rund ums Dach am Markt positioniert?

Die Idee, die Berater Daniel Dirkes, Inhaber der Auf Kurs GmbH in Merzen, ins Spiel brachte, klingt zunächst kontraproduktiv: Einen Tag pro Woche weniger arbeiten und dadurch dann drei Tage am Stück Zeit für Familie und Privatleben haben. Da Sascha Rathje nicht einordnen konnte, wie sich ein freier Tag mehr pro Woche anfühlt, hat er sich zunächst selbst ab und an mal einen freien Freitag gegönnt. Mit dem Ergebnis, dass er sich gut vorstellen konnte, dass die Vier-Tage-Woche auch für sein Team die perfekte Lösung sein könnte: „Ich habe viele Modelle durchgespielt und gerechnet, schließlich sollten die Mitarbeiter keine Lohneinbußen durch weniger Stunden haben.“ Heraus kam eine Vier-Tage-Woche mit 38 statt der üblichen 40 Stunden, die etwas geringere Arbeitszeit pro Mitarbeiter wollte Rathje mit einer Lohnerhöhung ausgleichen. „Natürlich“, so der Unternehmer, „war mir klar, dass der Betrieb dadurch vielleicht etwas weniger Geld verdienen könnte, doch das habe ich zugunsten einer besseren Work-Life-­Balance für mich und meine Mitarbeiter einkalkuliert.“

Kein Zwang zur Vier-Tage-Woche

Die Resonanz bei der Vorstellung seiner Pläne auf der Mitarbeiterversammlung war hervorragend. Nur zwei Mitarbeiter reagierten zunächst zögerlich, wollten dann aber auch mitmachen. Schließlich gab und gibt es keinen Zwang, wer möchte, darf freitags und samstags arbeiten und wird ganz normal dafür bezahlt. Unternehmer und Team einigten sich schließlich darauf, die Vier-Tage-Woche vom 1. April bis 30. September 2020 umzusetzen. Danach sollte dann bis Ende März wieder normal gearbeitet werden, damit die Mitarbeiter auch in der kalten Jahreszeit mit ihren witterungsbedingten Ausfällen auf ihre Stunden kommen.

Als Sascha Rathje im Gespräch mit handwerk magazin von seinen Erfahrungen mit der Vier-Tage-Woche erzählt, sind Begeisterung und Erstaunen noch herauszuhören: „Obwohl wir im Wochendurchschnitt länger und mehr gearbeitet haben als früher, sind die Mitarbeiter super motiviert , Stimmung und Wirtschaftlichkeit haben sich klar verbessert.“ Kein Wunder, dass der Unternehmer nun auch den Kollegen rät, bei der Arbeitszeit neue Wege zu gehen. Nach seiner Erfahrung kann das jeder, er muss es nur für seinen Betrieb organisieren. Etwaige Ängste, dass die Kunden nicht mitspielen oder gar abspringen, sind unbegründet. Im Gegenteil, wie Rathje versichert: „Viele Kunden fanden es gut, dass der Betrieb neue Wege geht.“

Arbeitsproduktivität: Viel hilft nicht viel

Kann es also sein, dass auch bei der Arbeitszeit weniger manchmal mehr ist? Hartmut Seifert, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, beantwortet das nach der Analyse von Arbeitszeiten und Produktivität in den einzelnen EU-Staaten mit einem klaren „ja“. So haben Deutschland, Belgien und Frankreich zwar die geringsten durchschnittlichen Arbeitszeiten, liegen aber in der Hitliste der Arbeitsproduktivität auf den ersten drei Plätzen. Damit die Gleichung aufgeht, müssen die Mitarbeiter laut Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und -medizin (BauA) in Dortmund jedoch auch ihre Arbeitszeit beeinflussen können. Denn wer mitreden und gestalten kann – das zeigt auch das Beispiel von Sascha Rathje – , fühlt sich wohler in seinem Job, hat weniger Ausfallzeiten und geht motivierter zur Sache.

Warum aber sind die Chefs im Handwerk trotzdem noch so zögerlich, was die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle betrifft? Daniel Dirkes, der die Zimmerei Rathje als Berater bei der Einführung unterstützt hat, sieht eine der Ursachen im fehlenden Vertrauen: „In der Vergangenheit haben viele Unternehmer irgendwann einmal die Erfahrung gemacht, dass die Mitarbeiter ihnen auf der Nase herumtanzen, wenn sie ihr Team nicht ständig kontrollieren.“ Deshalb hätten viele Angst loszulassen und setzen weiterhin auf ein starres Zeitkorsett, das kaum Ausnahmen zulässt. Genau das aber funktioniert laut Dirkes auch im Handwerk nicht mehr: „Die Chefs müssen ihr Führungsverhalten ändern und an sich arbeiten, sonst gehen die Mitarbeiter schnell wieder.“

Mitarbeiterführung: Ohne Vertrauen geht nichts

Der Weg zur vertrauensbasierten Führung verlange den Chefs zwar einiges ab, lohnt sich aber, weil die überwiegende Zahl der Mitarbeiter das Vertrauen auch zurückgibt. „Zehn bis zwanzig Prozent“, so Dirkes, „tun das in der Regel nicht, von denen muss sich der Unternehmer dann trennen.“ Schließlich funktionieren alle Formen der flexiblen Arbeitszeitgestaltung nach seiner Erfahrung nur, wenn die Betriebskultur passt und alle mitziehen. Im Gegensatz zu anderen Branchen, die in den letzten Monaten zum Teil von heute auf morgen ihre Arbeitsmodelle ändern mussten, werde Corona langfristig nicht für mehr Flexibilität im Handwerk verantwortlich sein: „Dafür wird vor allem der Fachkräftemangel sorgen.“

Alexander Strehl, Betriebsberater bei der Handwerkskammer Osnabrück-Emsland, beobachtet zwar bei den Betrieben in seiner Region durchaus vermehrt Schichtmodelle, dies ist nach seiner Einschätzung jedoch hauptsächlich dem derzeit erforderlichen Infektionsschutz geschuldet. Auch das oft genannte Homeoffice sei im Handwerk von untergeordneter Bedeutung und bestenfalls bei Büromitarbeitern zu erkennen.

Homeoffice-Pflicht ist Unsinn

Jörg Hümmer, Chef von Elektrotechnik Hümmer in Hamburg, setzt gegen den Trend schon seit Jahren nicht nur bei seinen Büro- und IT-Kräften auf mobiles Arbeiten, sondern auch bei Projekt- und Bauleitern. Während der Corona-Krise hat er zwar bei der IT-Ausstattung seiner Führungskräfte „noch einmal kräftig zugelegt“, doch trotz allem Bemühen um mehr Flexibilität ist das Homeoffice für ihn keine Dauerlösung. „Manche Mitarbeiter haben zu Hause keinen Platz, andere brauchen den persönlichen Kontakt zu den Kollegen und wieder andere arbeiten mit vertraulichen Dokumenten, die besser nicht in einer Privatwohnung herumliegen sollten.“

Das von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgeschlagene Recht der Arbeitnehmer auf einen Homeoffice-Platz sieht er extrem kritisch: „ Flexibilität lässt sich nicht per Gesetz bestimmen, sondern muss immer eine Entscheidung des Unternehmers sein.“ Bei ihm gibt es etwa auch Monteure, die ihre digital vom Büro übermittelten Aufträge komplett eigenständig abwickeln und nur ab und an zum Materialholen in die Firma fahren. Wo das Modell zum Mitarbeiter passt, funktioniert es prima, doch längst nicht alle Monteure können und wollen nach Hümmers Erfahrung so arbeiten. Deshalb müsse es immer in der Entscheidung des Chefs und auch des jeweiligen Mitarbeiters liegen, wie flexibel und mobil ein Arbeitsplatz sein kann.

„Wir haben ein Corona-Konzept entwickelt, das uns flexibel in Krisensituationen macht“, erklärt etwa Raphael Zach. Gemeinsam mit den Eltern Marianne und Otto Zach sowie den Geschwistern Tobias Zach und Verena Losert leitet der Elektrotechniker das knapp 100 Jahre alte Familienunternehmen im oberbayerischen Tacherting. Als der erste Lockdown im Frühjahr 2020 kam, krempelten die Zachs den Betrieb komplett um. Die rund 70 Mitarbeiter wurden in zwei Teams eingeteilt, die sich jede Woche abwechselten. Wenn ein Team in der Firma war, leistete das zweite Team im Homeoffice Unterstützung. Die 17 Azubis wurden jeweils einem Team zugeordnet und wechselten nicht mehr die Abteilung. Für die ungefähr 50 Mitarbeiter im Kundendienst änderte sich hingegen kaum etwas. Sie arbeiteten in ihren Teams und mussten ihre Betriebsaufenthalte lediglich so einteilen, dass sie möglichst wenig Kollegen begegneten. Mancher holte bereits um sechs Uhr morgens seine Aufträge ab.

Flexibel für die Kunden da sein

Bei den Anti-Corona-Maßnahmen profitierte der Elektroanlagenhersteller von einem neuen Gehalts- und Arbeitszeitmodell, das jedem Mitarbeiter das gleiche Monatseinkommen bei wechselnden Arbeitsstundenzahlen sicherstellt. Abgerechnet wird auf Basis der Jahresarbeitszeit. Jeder Mitarbeiter muss seine Arbeitszeiten mit seinem direkten Vorgesetzten abstimmen und dokumentieren. Für Zach balanciert dieses Modell Kundenanforderungen und Mitarbeiterwünsche geschickt aus und macht – wenn nötig – auch Wochenendarbeit möglich. „Auf Kundenanforderungen müssen wir immer flexibel reagieren“, betont der Unternehmer.

Fachkräfte variabel einsetzen

Die Zach Elektoranlagen GmbH & Co.KG arbeitet mit öffentlichen und privaten Auftraggebern zusammen. Ein wichtiger Schwerpunkt sind Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung, zudem hat sich Zach auf komplexe Elektroinstallationen, Prozessleitsysteme, Automatisierungstechnologien und Blockheizkraftwerke spezialisiert. Am liebsten realisieren die Oberbayern komplette Projekte und wollen möglichst einziger Ansprechpartner sein. Hinzu kommen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten, die inzwischen fast 20 Prozent des Umsatzes ausmachen. Zach möchte deshalb Mitarbeiter langfristig binden und bietet viele Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung. An Kollegen, die sowohl auf der Baustelle als auch im Büro Berufserfahrung gesammelt haben, herrscht derzeit kein Mangel. „Auch das ist ein Geheimnis unserer Flexibilität“ , sagt Raphael Zach.

Anleitung Ihr 10-Punkte-Plan für flexibles Arbeiten

Ohne eine größere Flexibilität bei den Arbeitszeiten, da ist sich Daniel Dirkes sicher, können Handwerker künftig kaum mehr Mitarbeiter finden und halten. Der Chef eines Baubetriebs für Reitanlagen und Inhaber der auf die Beratung von Handwerkern spezialisierten Auf Kurs GmbH in Merzen zeigt, wie die Einführung gelingt.

  1. Möglichkeiten ausloten
    Von der Lebensarbeitszeit bis zur Vier-Tage-Woche. Modelle und Möglichkeiten für mehr Flexibilität gibt es viele. Welche sich für Ihren Betrieb eignen, müssen Sie individuell und auf Grundlage Ihrer Betriebskultur, Führungsstrategie und Marktanforderung entscheiden.

  2. Das Team fragen
    Zu oft denken sich Chefs Lösungen aus, die dann vom Team gar nicht oder nur teilweise angenommen werden. Damit keine wertvollen Potenziale zur Mitarbeitermotivation verloren gehen, sollten Sie als Führungskraft zwar die Leitplanken festlegen (siehe Schritt 1), Ihrem Team aber die Chance geben, Wünsche und Bedürfnisse zu äußern.

  3. Individuelle Lösungen zulassen
    Aufgrund der kleineren Betriebsgrößen können viele Handwerker individuelle Lösungen bieten. Nutzen Sie die Chance! Schließlich hat der 30-jährige Vater von zwei kleinen Kindern andere Bedürfnisse an ein Arbeitszeitmodell als ein 60-jähriger Mitarbeiter ohne familiäre Verpflichtung.

  4. Experten hinzuziehen
    Das Arbeitszeitgesetz lässt zwar prinzipiell viel Spielraum bei der Ausgestaltung von Arbeitszeitmodellen, dennoch gibt es einige Regeln zu beachten. Diskutieren Sie daher Ihre Ideen und Konzepte mit einem Steuerberater oder einem Fachanwalt.

  5. Die Spielregeln festlegen
    Wer darf wann Feierabend machen, gibt es Gleitzeiten und wie wird mit der Urlaubsplanung umgegangen? Wichtig ist es, vor der Einführung diese Fragen zu klären. Für das Bauhandwerk stellt sich auch die Frage: Fahren wir im Sommer und Winter das gleiche System oder passen wir uns den Witterungs- und Helligkeitsbedingungen an?

  6. Test-Zeitraum definieren
    Da Menschen gerne in alte Muster zurückfallen, sollten Sie Ihr Team dazu anhalten, das Modell wirklich zu probieren. Lassen Sie sich nicht von Rückschlägen entmutigen, diese haben nichts mit Ablehnung zu tun! Jede Veränderung braucht Zeit, bis sie sich etabliert hat und Teil der Kultur geworden ist.

  7. Erfahrungen austauschen
    Schaffen Sie eine entspannte und angstfreie Atmosphäre, damit jeder Mitarbeiter seine Meinung sowie Vor- und Nachteile klar äußern kann. Aus diesen Diskussionen ergeben sich oft gute Ansätze zur weiteren Verbesserung des neuen Ansatzes.

  8. Scheitern als Gewinn sehen
    In vereinzelten Fällen kommt das Team zur Erkenntnis, dass das alte Modell doch besser zu den eigenen Lebensgewohnheiten passt. Auch wenn das passiert, haben Sie einen echten Gewinn erzielt! Denn Ihre gute Absicht wird Ihrem Team im Kopf bleiben. Sie können also nur gewinnen, wenn Sie neue Wege wagen!

  9. Mit der Flexibilität werben
    Das Thema flexible Arbeitszeit ist für einen großen Teil der Mitarbeiter inzwischen wichtiger als das Geld. Gerade die „latent Suchenden“ (qualifizierte Fachkräfte, die offen für einen Arbeitgeberwechsel sind) erreichen Sie gut mit einer besseren Work-Life-Balance. Nutzen Sie Ihre Maßnahmen gezielt in der Werbung über Website, Social-Media und sonstigen Kanälen.

  10. Legen Sie sofort los!
    Warten Sie nicht länger, bis die Konkurrenz Ihnen den Rang abläuft. Viele Kollegen arbeiten bereits an oder mit Modellen, die Mitarbeitern mehr Flexibilität und Freiräume verschaffen. Diese Betriebe haben ein gewichtiges Argument in der Mitarbeitergewinnung – dem vielleicht wichtigsten Bereich in der Zukunft des Handwerks.
Mitarbeiter im Handwerk haben weniger Einfluss
Mit 42 Prozent ist der Anteil der Beschäftigten, die sich viel Einfluss bei Beginn und Ende der Arbeitszeit wünschen, aber tatsächlich wenig haben, im Handwerk mehr als zehn Prozentpunkte höher als in anderen Branchen. - © Quelle: BauA Arbeitszeitbefragung 2018
Infografik: Arbeitszeitgestaltung

Mitarbeiter im Handwerk haben bei der Arbeitszeitgestaltung weniger Einfluss: Mit 42 Prozent ist der Anteil der Beschäftigten, die sich viel Einfluss bei Beginn und Ende der Arbeitszeit wünschen, aber tatsächlich wenig haben, im Handwerk mehr als zehn Prozentpunkte höher als in anderen Branchen.

Spielraum bei Arbeitszeit
Je mehr Spielraum, desto fitter. - © Quelle: BauA Arbeitszeitbefragung 2018
Infografik: Spielraum bei der Arbeitszeit

Je mehr Spielraum bei der Arbeitszeit, desto fitter: Mitarbeiter, die mehr Einfluss auf Beginn und Ende der Arbeitszeit haben, klagen deutlich weniger über gesundheitliche Beschwerden als ihre Kollegen ohne Einflussmöglichkeiten.