Bundesarbeitsgericht zur Zeiterfassung Arbeitszeiterfassung: Das müssen Unternehmer nach dem BAG-Beschluss beachten

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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) verlangt vom Arbeitgeber eine systematische Zeiterfassung. Wie genau das aussehen soll, muss der Gesetzgeber noch regeln. Handwerksunternehmer stehen dennoch jetzt schon in der Pflicht. Was Sie zum Beschluss der Richter wissen müssen.

Lars Volquardsen, Geschäftsführer und Bauleiter der Bauunternehmung Edlef Jensen GmbH in Tinnum auf der Insel Sylt, und seine Kollegin, Finanzbuchhalterin Bianca Thomsen.
Lars Volquardsen, Geschäftsführer und Bauleiter der Bauunternehmung Edlef Jensen GmbH in Tinnum auf der Insel Sylt, und seine Kollegin, Finanzbuchhalterin Bianca Thomsen. - © Jörg Brockstedt

Die Bauunternehmung Edlef Jensen GmbH mit Sitz in Tinnum auf Sylt hat das Thema Arbeitszeiterfassung bereits gut erprobt. Vor rund drei Jahren führte der Betrieb ein professionelles Baustellenmanagementsystem ein. In erster Linie ging es bei der Digitalisierung darum, Projektinformationen direkt vor Ort jederzeit einsehen zu können. Dass sich mit der 123erfasst-App gleichzeitig elektronisch die Arbeitszeit erfassen lässt, war eher ein angenehmer Nebeneffekt. „Uns ging es darum, der Zettelwirtschaft den Kampf anzusagen und Projektdaten ohne Medienbruch verfügbar zu haben“, erklärt Bianca Thomsen, Finanzbuchhalterin und Assistentin der Geschäftsleitung.

Das System hat sich bewährt. „Wir sind jetzt im Büro immer auf dem aktuellen Stand, während die Teams auf der Baustelle arbeiten“, so Thomsen. Die 50 Mitarbeiter melden sich morgens an der Baustelle oder in der Zentrale an. Anschließend buchen die Teamleiter die jeweilige Anfangszeit auf dem betrieblichen Smartphone ein. Abends dann wird jeder wieder ausgecheckt. Die Daten überträgt die Software verschlüsselt und automatisch in Echtzeit an einen Server. „Wir können hier im Büro sofort sehen, wer krank ist und wer wie lange auf einer Baustelle tätig ist“, so Thomsen. Gespeichert sind die Zeiten nachher auf dem Server im eigenen Unternehmen sowie parallel in einem externen Rechenzentrum. So läuft das alles perfekt und ohne großen Aufwand. „Anfänglich waren die Kollegen skeptisch. Doch sie haben schnell gemerkt, dass die Stundeneingabe per App komfortabler ist, als Stundenzettel manuell auszufüllen“, sagt Geschäftsführer und Bauleiter Lars Volquardsen.

Systematische und lückenlose Arbeitszeiterfassung ist Pflicht

Der Baubetrieb ist mit der systematischen lückenlosen Arbeitszeiterfassung vielen Handwerksunternehmen einen Schritt voraus. Nach einem neuen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG –Aktenzeichen 1 ABR 22/21) vom September dieses Jahres müssen alle Unternehmer nachziehen. Die Richter geben eine generelle und systematische Zeiterfassung für jeden Mitarbeiter vor. „Wir sind als Baufirma ohnehin schon länger dazu verpflichtet, die Arbeitszeiten komplett zu dokumentieren. Mit unserer elektronischen Lösung sehen wir uns auf der sicheren Seite und sehen den Beschluss der Richter gelassen“, beschreibt Volquardsen die Sichtweise des Betriebs.

Andere Firmenchefs aber zeigen sich verunsichert. Martin Hailer, selbstständiger Rechtsanwalt in der Kanzlei BRSH Rechtsanwälte in Lindau, bestätigt das: „Aktuell diskutieren wir häufiger mit Mandanten, ob und wie sie auf den Beschluss des BAG reagieren sollen.“ Einige regeln die Zeiterfassung in ihrem Betrieb komplett neu. „Dabei ist dies aber oft gar nicht notwendig“, so der Rechtsanwalt. Was Unternehmer jetzt beachten müssen, zeigt der Kurzüberblick.

Ausgangspunkt: Ein Konflikt mit dem Betriebsrat

Der Hintergrund: Das Bundesarbeitsgericht fasste den Beschluss zur Arbeitszeiterfassung, nachdem ein Betriebsrat das Verfahren eingeleitet hatte. Dem lag folgender Fall zugrunde: Arbeitgeber und Betriebsrat regelten die Bestimmungen zur Kernarbeitszeit neu. Zeitgleich wollten die Parteien eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung aushandeln. Sie konnten sich nicht einigen. Am Ende wandte sich der Betriebsrat an das Arbeitsgericht Minden, weil er ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems forderte. Die erste Instanz war auf der Seite des Arbeitgebers und wies den Antrag ab. In zweiter Instanz änderte das Landesarbeitsgericht die Entscheidung ab. Die Sache endete schließlich vor dem BAG.

Es ging also eigentlich gar nicht primär um eine Pflicht des Arbeitgebers zur elektronischen Zeiterfassung an sich, sondern um das Initiativrecht des Betriebsrats – was die Richter des BAG am Ende ablehnten. „Die ausführliche Begründung des BAG-Beschlusses liegt leider noch nicht vor. Das BAG veröffentlichte bisher nur eine Pressemitteilung“, sagt Fachanwalt für Arbeitsrecht Pascal Verma, Partner der Kanzlei nbs partners in Hamburg. Und diese Pressemeldung löste eine große Debatte aus. Im ersten Satz steht nämlich: „Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“

Dauerbrenner: Überstunden sind nachzuweisen

Überstunden geben in vielen Betrieben häufiger Anlass für Streit zwischen Chef und Mitarbeitern. Das Bundesarbeitsgericht hatte dazu im Mai einen richtungsweisenden Fall zu entscheiden (Aktenzeichen 5 AZR 359/21).

Geklagt hatte der Arbeitnehmer. Er war Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen. Seine Arbeitszeit erfasste er per Technik. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit wurden festgehalten, nicht aber die Pausen. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergaben sich 348 Überstunden, die er sich auszahlen lassen wollte. In dem Streit ging es um die Pausenzeiten. Der Mitarbeiter gab an, zeitlich wären sie nicht drin gewesen – sonst hätte er eine fristgerechte Auslieferung gefährdet.

Damit kam er vor dem Bundesarbeitsgericht nicht durch. „Will der Mitarbeiter erfolgreich Vergütungsansprüche für Überstunden geltend machen, muss er darlegen, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich zur Arbeit bereitgehalten hat“, erklärt Anwalt Verma. Dies bezieht sich nicht nur darauf, Arbeits- und Pausenzeiten zu dokumentieren. Es muss auch klar sein, dass der Chef die Überstunden angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat. Der Mitarbeiter hat auf Anweisung zu agieren.

Vorgabe ist nicht völlig neu

Dabei ist diese Vorgabe keine Neuigkeit. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erlegt in einem Urteil den Mitgliedstaaten ohnehin auf, die Arbeitgeber zu verpflichten, ein verlässliches System einzurichten. Die täglich geleistete Arbeitszeit ist demnach zu erfassen. Die Staaten der EU müssen ein Gesetz verabschieden, was in Deutschland noch nicht passiert ist. „Letztlich warten alle schon länger da­rauf, dass der Gesetzgeber in diesem Kontext tätig wird“, so Verma.

Mit dem Beschluss des BAG verschärft sich nun die Lage. Das Bundesarbeitsministerium veröffentlichte jüngst einen Fragen-Antwort-Katalog zum BAG-Urteil und vertritt darin die Auffassung, dass in jedem Unternehmen nach dem BAG-Beschluss jetzt die täglichen Arbeitszeiten jedes Mitarbeiters vollständig zu dokumentieren sind – und zwar systematisch. Beginn, Ende und die Dauer der täglichen Arbeitszeit sind für jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin aufzuzeichnen. „Ein zertifiziertes elek­tronisches System ist danach nicht notwendig. Die Dokumentation könnte auch handschriftlich erfolgen“, erklärt Rechtsanwalt Hailer. Wobei er dennoch den Rat gibt, ein elektronisches System zu verwenden. „Das ist einfach zeitgemäß“, erklärt Hailer.

Die Regeln schließen auch die sogenannte Vertrauensarbeitszeit mit ein. Bei diesem Modell entscheiden die Mitarbeitenden selbst, wann sie ihre vereinbarten Stunden leisten. Die Arbeitnehmer sind dementsprechend für die Arbeitszeiterfassung selbst verantwortlich. Der Unternehmer vertraut einfach darauf, dass alles wie vertraglich vereinbart klappt. „Eine Dokumentation der Arbeitszeit steht einer solchen Vereinbarung nicht im Wege“, so das Bundesarbeitsministerium. Der Arbeitgeber muss nur etwa durch Stichproben kontrollieren, dass die Arbeitnehmer ihre Stunden vermerken.

Für die Vertrauensarbeitszeit bedeutet dies: Arbeitnehmer erfassen ihre Zeiten selbst. Der Chef muss ein System anbieten und dafür sorgen, dass die Mitarbeiter Beginn und Ende ihrer Tätigkeit eintragen. „Es besteht kein Anlass, die Vertrauensarbeitszeit wieder einzuschränken oder aufzuheben. Durch eine Vereinbarung im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung ist Vertrauensarbeitszeit, Stand heute, möglich“, so Hailer.

Know-how: Was fällt unter die Kategorie Überstunden?

Wegstrecken von zu Hause zum Betrieb, Umwegfahrten zum Kunden: Arbeitszeit und Freizeit lassen sich häufig nicht leicht abgrenzen. Hierzu einige Erläuterungen.

  • Mehrarbeit: In der Regel umfasst ein Arbeitstag acht Stunden. Bei Mehrarbeit handelt es sich um jene Zeiten, die pro Tag darüber hinausgehen. Sie müssen nach dem Arbeitsrecht innerhalb von 24 Wochen ausgeglichen werden – in Geldleistungen oder durch Freizeit.
  • Überstunden: Hier handelt es sich um jene Minuten, die über die vertragliche oder die tarifrechtliche Arbeitszeit hinausgeht. Diese muss der Chef dulden oder anordnen, damit sie vergütungsrechtlich relevant sind. Überstunden müssen dem Arbeitgeber also zugerechnet werden können. Die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden täglich gemäß dem Arbeitszeitgesetz ist stets zu beachten.
  • Fahrtzeiten: Die Fahrt von zu Hause zum Betrieb zählt nicht zur Arbeitszeit. Die Arbeitszeit beginnt erst im Betrieb. „Soll ein Monteur auf Anweisung des Arbeitgebers jedoch von zu Hause direkt zum Kunden fahren, stellt diese Fahrtzeit in der Regel vergütungsrechtliche Arbeitszeit dar“, so Verma. Stehen die Mitarbei­tenden bei einer direkten Fahrt zum Kunden dann im Stau, geht das zulasten des Arbeit­gebers, der diese Wartezeit zu vergüten hat.
    „Die Reisezeit ist aber auf die erforderliche Zeit begrenzt. Nimmt der Arbeitnehmer also einen Umweg in Kauf, etwa um sich beim Bäcker noch ein Pausenbrötchen zu holen, ist das eigennützig und daher keine Arbeitszeit“, erklärt der Experte.