Ausbildung, Digitalisierung und IT-Trends
Mit dem Metaverse beschäftigen sich nicht nur große Unternehmen – auch Handwerksbetriebe testen bereits die Vorteile der virtuellen Welt für sich.
An ihrem ersten Arbeitstag trafen sich die Azubis mit dem Führungsteam von Neusehland Hartmann beim „Welcome Day“. Für die Einstandszeremonie hatte Thomas Kupka, Personalleiter beim mittelständischen Betrieb für Augenoptik und Hörgeräte, einen besonderen Raum organisiert. Es war Herbst 2021, die Coronapandemie in vollem Gang. Kupka konnte die 25 Neulinge aus den 42 Filialen des Betriebs nicht in die Firmenzentrale nach Gießen laden. „Deshalb verlegten wir den Termin nach Gather Town“, erzählt er. Um einzutreten, benötigten die Azubis lediglich ein internetfähiges Gerät und einen Zugangslink – schon befanden sie sich im Metaversum ihres neuen Arbeitgebers.
Was klingt wie ein Szenario aus ferner Zukunft, gehört bei Neusehland seit dem Ausbildungsstart im vergangenen Jahr zum Alltag. „Unser Betrieb ist in Deutschland unter den ersten Mittelständlern, die den Schritt ins Metaverse gewagt haben“, freut sich Kupka. Als Mitglied des Führungsteams beschäftigt er sich schon länger mit digitalen Lernplattformen.
Virtuelle Lern- und Arbeitswelt
Während des ersten Lockdowns setzte er mit der Confidos Akademie als technischem Dienstleister zunächst eine Online-Lern-Plattform um. Danach arbeiteten die beiden Partner an einer Lern- und Arbeitswelt für Azubis in Gather Town. Über das Programm können sie virtuelle Räume erstellen, in denen sich Personen über einen Avatar als digitales Alter Ego bewegen und miteinander interagieren. Neben dem Meetingraum für den „Welcome Day“ hat Confidos für Neusehland auch einen Raum für Hörakustik und Augenoptik gestaltet. „Dort lernen die Azubis künftig mit spielerischen Elementen ihren Beruf“, sagt Kupka. Gemeinsam mit den Ausbildungsleitern des 480-köpfigen Betriebs erarbeitet er die passenden Inhalte.
Metaverse: Was ist das?
Das Internet ist bisher zweidimensional über einen Bildschirm zugänglich – nun kommt eine dritte Dimension dazu.
Das Metaverse ist das Internet in 3D. Mit der dreidimensionalen Technologie entsteht ein virtueller Raum, in dem Menschen mit Avataren miteinander interagieren können. Um einen jeweiligen Raum im Metaverse betreten zu können, benötigt der User ein internetfähiges Endgerät wie Smartphone, Laptop oder Tablet. Eine VR-Brille aufzusetzen ist optional, beschert allerdings das Gefühl, sich in einer realen Welt zu befinden. Handwerksbetriebe, die im Metaverse auftreten möchten, können auf Dienstleister zurückgreifen oder sich in existierenden virtuellen Welten einen Standort errichten.
Spielen im Friseursalon
Wie Lernwelten im dreidimensionalen Internet aussehen können, daran tüftelt auch das 25-köpfige Team im Innovationslabor von Würth Industrie Service im baden-württembergischen Bad Mergentheim. Das Unternehmen der Würth-Gruppe, die Montage- und Befestigungsmaterial vertreibt, erschließt sich neue Wege, um Produkte virtuell erlebbar zu machen. Dieses Know-how gibt die Gruppe auch an ihre Partner weiter, für die sie Präsenzen im Metaverse einrichtet. Angehenden Friseuren steht zum Beispiel ein Raum zur Verfügung, in dem es aussieht wie in einem realen Salon. Nur: Sämtliche Utensilien sind wild verstreut auf dem Boden. Schere, Kamm und Handtücher liegen achtlos hingeworfen auf dem Boden, der Föhn ist sogar im Waschbecken. „Dort muss er sofort rausgenommen werden, bevor ein Kurzschluss passiert“, sagt Tobias Ladewig, der das Team als Head of Development leitet. Mit seiner Avatar-Hand beginnt er nun den Raum aufzuräumen. Für die Arbeit trägt er eine Oculus Quest 2. Die VR-Brille des ehemaligen Facebook-Konzerns Meta erlaubt es ihm, sich im Raum völlig frei zu bewegen. „Das macht das Erlebnis im virtuellen Raum noch intensiver“, versichert der Entwickler, während er den Kamm vom Boden aufklaubt. An der Wand hängt eine Uhr, die misst, wie viel Zeit er für das Spiel „Finde die zehn Fehler“ braucht.
Solche bekannten Elemente aus dem Online-Gaming sollen für Spaß sorgen und auf spielerische Art den Wettbewerb unter den Azubis anfeuern. „Über die Trainingsspiele lassen sich insbesondere jüngere Menschen zum Lernen motivieren“, ist sich Ladewig sicher. Studien geben ihm recht: Laut Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften fällt das Lernen leichter, wenn unterschiedliche Sinneswahrnehmungen angesprochen werden. In einer zweidimensionalen Bildschirmwelt ist das nicht möglich. „Wenn Lerninhalte über Video-Kanäle wie Teams oder Zoom vermittelt werden, ist es oft so, dass der Ausbilder spricht – und die Schüler machen nebenbei noch etwas anderes“, sagt Ladewig.
Das wiederum geht im Metaverse nicht. Alle Teilnehmer sind live involviert und müssen mitmachen – genauso wie bei einem physischen Ausbildungstag in der realen Welt auch. Über Ton im Raum, im Fachjargon „spacial audio“ genannt, sind auch intime Einzelgespräche von Avatar zu Avatar möglich.
Einfacher als „Super Mario“
Dass es so einfach sein kann, in einer virtuellen Welt Zeit zu verbringen, hätte sich Kupka nicht träumen lassen. „Als ich zum ersten Mal vom Metaversum hörte und der Möglichkeit, dort selbst präsent zu sein, dachte ich an ‚Super Mario‘“, erinnert sich der Personalchef. Doch so komplex wie das Videospiel des japanischen Spielkonsolenherstellers Nintendo ist die Realität in Gather Town gar nicht. „Wir brauchen noch nicht mal eine VR-Brille, sondern können uns direkt vorm Bildschirm im virtuellen Raum bewegen“, so Kupka. Sein Ziel ist es, künftig weitere Lektionen der Ausbildung in der 3-D-Welt abzuhalten.
Mit seinen virtuellen Räumen in Gather Town spart sich der Betrieb viel Geld. „Anstatt für eine Schulung anderthalb Stunden von Nord- oder Südhessen nach Gießen zurückzulegen, können unsere Azubis von ihrer Niederlassung aus am Unterricht mit ihrem Avatar teilnehmen. Das spart die kostspielige und zeitraubende An- und Abreise ein“, erklärt Kupka. Der Zugang zur Plattform kostet den Betrieb einen monatlichen Beitrag von insgesamt circa 300 Euro. Für die Programmierung der Räume war eine einmalige Summe fällig, die Kupka auf weniger als 5.000 Euro beziffert. Der Ausbildungsalltag im Metaversum rechnet sich.
VR-Brille – mit oder ohne?
Wenn der Betrieb seine Azubis zusätzlich mit VR-Brillen ausrüsten müsste, sähe die Rechnung schon anders aus. Schließlich kostet eine Brille wie die Oculus Quest 2 im Handel circa 500 Euro. Bei insgesamt 60 Azubis, die der Betrieb derzeit zählt, wären das immerhin 30.000 Euro. Die Ausbildungsleiter für die 42 Filialen sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Bei Würth setzt Tobias Ladewig dagegen explizit auf die Brille. Das VR-Device gibt dem Nutzer das Gefühl, sich in einer lebensechten Umgebung zu bewegen. „Um die Abläufe in einem Betrieb zu schulen, ist es essenziell, dass die Teilnehmer etwas anfassen können.“ Da ein echtes Befühlen der Gegenstände nicht möglich ist, meint der Entwickler damit, die Dinge jeweils erlebbar und damit annähernd fühlbar zu machen. Ebenfalls wichtig: „Die Schüler können knifflige Geräte ausprobieren, ohne jemand anderen oder sich selbst in Gefahr zu bringen.“ Oder in anderweitige unangenehme Situationen. Bevor die Azubis auf echte Kundschaft losgelassen werden, können sie Beratungsgespräche im Metaversum am Avatar trainieren.
Finanzielle Anreize fürs Metaverse
Auch beim Augenoptiker und Hörakustiker Neusehland ist das Führungsteam vom Metaverse begeistert. Weil der Familienbetrieb gegenüber neuen Themen und Technologien sehr aufgeschlossen ist, hat er schon einen Preis gewonnen: Für die Beratungs-App, die Kunden im Laden über ein iPad zu passenden Brillen und Kontaktlinsen konsultiert, hat Neusehland 2018 den German Design Award gewonnen. Diese aktive Teilhabe an der Digitalisierung macht den Betrieb aus Gießen für Azubis besonders interessant, glaubt Kupka.
Von seiner früheren Tätigkeit als Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft in Gießen kennt Kupka das Argument vieler Betriebe, dass digitale Technologien „nur Geld kosten“. Doch – wie sein Projekt belegt – ist das Gegenteil der Fall. Weil die Ausbildung im Metaverse zukunftsträchtig erscheint, hat sich das Hessische Ministerium für Soziales und Integration mit einer finanziellen Förderung beteiligt. Als weitere Partner für die Umsetzung sind die Gießener gemeinnützige Berufsbildungsgesellschaft ZAUG und das Regionalmanagement Mittelhessen verantwortlich. Bevor sie sich für ihr Engagement entschieden, mussten sie jedoch erst eine schwierige Frage beantworten: Ist das Metaverse tatsächlich eine realistische Zukunftsperspektive der Fachkräftesicherung – oder nur ein virtueller Schein?
Die Zweifel sind berechtigt. Vor knapp 20 Jahren entwickelte die Firma Linden Lab das Videospiel „Second Life“. In der virtuellen Welt konnten Nutzer – wie beim Metaverse heute – durch Avatare interagieren, spielen, Handel betreiben und miteinander kommunizieren. Das Experiment von Second Life blieb erfolglos. Doch seither hat sich einiges getan. Da ist zunächst das Smartphone, das ein leistungsfähiger Mini-Computer ist, der sich überall nutzen lässt – aber erst seit 2010. Auch VR-Brillen für den Konsumentenmarkt gab es damals noch nicht. Ebenso wenig wussten die Menschen, wie sie sich in virtuellen Welten bewegen können. Gelernt haben sie das über soziale Netzwerke wie Facebook, das erst 2004 gelauncht wurde.
Viel Potenzial sieht auch Kristian Kerkhoff im neuen Trendthema. Als Geschäftsführer beim digitalen Dienstleister Demodern in Köln steht er in engem Kontakt mit Unternehmen und weiß, was sie aktuell beschäftigt. „Mitarbeiter für ein Projekt an einem Tisch zu versammeln ist beim heutigen dezentralen Arbeiten eine große Herausforderung“, berichtet er. Das betrifft nicht nur global agierende Unternehmen, sondern auch kleinere Handwerksbetriebe. Über das Metaverse können Menschen nun aus verschiedenen Teilen einer Region, des Landes und sogar der Welt im virtuellen Raum zusammenkommen und gemeinsam arbeiten. Handwerksbetrieben bietet diese Zweigstelle im dreidimensionalen Netz Vorteile bei der Produktion, aber auch im Vertrieb. „Wenn ein Betrieb in Köln keine Zeit für meinen Auftrag findet, greife ich auf einen Handwerker in der Eiffel zurück. Das geht aber nur dann, wenn der Dialog komplett digital abläuft und auch eine 3D-Planung möglich ist.“
Produkte in 3D erstellen
Die dreidimensionale Aufbereitung, die auch beim digitalen Bauen eine immer größere Rolle spielt, gelingt zum Beispiel über Fotogrammetrie. Über eine spezielle Software lassen sich Produkte aufzeichnen und vermessen, um sie über sogenannte Wolkenpunkte auf Grundlage der realen Welt nachzubauen.
Liegen die Objekte erst mal in 3-D vor, können Betriebe einiges damit anstellen: Ein Tischler kann seine Produkte einem größeren Kundenkreis vorführen, täglich oder auch im Rahmen einer Konferenz oder einer Messe. Ein SHK-Handwerker ist in der Lage, das Bad für seinen Kunden in der virtuellen Welt vorzuplanen und gemeinsam mit ihm zu begehen. Ein Installateur arbeitet gemeinsam mit dem Hersteller einer Heizungsanlage an auftauchenden Problemen, auch über weite Distanzen hinweg. „Immer mehr moderne automatisierte Systeme enthalten Bauteile aus dem Ausland. Da ist es von Vorteil, mit den Fabrikaten direkt in der virtuellen Welt in Kontakt zu treten, wenn etwas nicht funktioniert“, erklärt Kerkhoff. Zusätzlich können sie ihre Mitarbeiter am digitalen Zwilling der real existierenden Objekte schulen. Das Gute daran: Handwerksbetriebe müssen in solchen Fällen die Produkte nicht selbst in 3-D modellieren, sondern greifen auf fertige Lösungen der Hersteller zurück. „Damit wird der Markt Schritt für Schritt aufgebaut“, sagt der Demodern-Chef.
Die Technologie dafür steht bereit. „Im ersten Schritt können Betriebe VR-Brillen kaufen und testen“, empfiehlt Kerkhoff. In Zukunft wird dem Experten zufolge kein Unternehmen mehr an der virtuellen Welt vorbeikommen. Handwerksbetriebe, die sich daher früh mit den Möglichkeiten des Metaverse beschäftigen, sind im Vorteil. Zu diesem Schluss sind auch Thomas Kupka und die Partner rund um das Metaverse-Projekt von Neusehland gekommen. Die Frage, ob dem Metaverse eine echte Zukunft bevorsteht, haben sie bejaht.
Metaverse: Einsatz im Handwerk
- Aus- und Weiterbildung:
Über einfache Spiele lassen sich Azubis und Fachkräfte gezielt auf neue Aufgaben vorbereiten. Die Gaming-Elemente sorgen für Spaß und intensivieren die Lerneffekte, da viele unterschiedliche Sinne angesprochen werden.
- Arbeitssicherheit:
Mitarbeiter können Maschinen ausprobieren, ohne dass sie andere oder sich selbst dabei in Gefahr bringen. Kollaboratives Arbeiten: Um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, kommen Mitarbeiter aus verschiedenen Regionen oder Ländern zusammen, ohne dafür lange Reisen auf sich nehmen zu müssen.
- Produktdemonstration:
Über Fotogrammetrie-Software lassen sich Produkte in 3-D-Abbild erstellen und auch für Kunden erlebbar machen. Über den Showroom im 3-D-Internet können somit Messen und Ausstellungen ergänzt oder sogar ersetzt werden.