Tradition und Technik Seifriz-Preis 2020: Die virtuellen Maßschuh-Macher "Vickermann & Stoya" im Porträt

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Unter den Seifriz-Preis-Gewinnern 2020 finden sich unter anderem zwei Maßschuh-Macher aus Baden-Baden. Warum sich die beiden Handwerksunternehmer ­den begehrten Award sichern konnten und welche Schritte für den "perfekten Schuh" nötig sind, lesen Sie im Porträt von Matthias Vickermann und Martin Stoya.

Matthias Vickermann und Martin Stoya
"Wir verbinden handwerkliche Tradition mit ­modernen orthopädischen ­Komponenten." So lautet kurz zusammengefasst die Firmenphilosophie von Matthias Vickermann (li.) und Martin Stoya. - © Christian Mader

Wie entscheidend eine simple WhatsApp-Gruppe für den Erfolg sein kann, wissen Matthias Vickermann und Martin Stoya nur zu gut. Gemeinsam mit ihren Wissenschaftspartnern Milad Mafi und Phillip Jahn räumten die Handwerksunternehmer in diesem Jahr einen der renommierten Seifriz-Preise ab. Der – zugegeben – etwas sperrige Name des innovativen Projekts: „Digitale Prozesskette zur automatischen Konstruktion von Maßschuhen“. Oder einfacher ausgedrückt: via App zum perfekt passenden Schuh. Mit diesem Ansatz, der übrigens mithilfe der erwähnten WhatsApp-Gruppe so richtig an Fahrt aufnahm, wollen die vier Gewinner die Schuhindustrie nachhaltig verändern. Doch der Reihe nach.

Algorithmus für die Fertigung

Springen wir ins Jahr 2017. Milad Mafi und Phillip Jahn kennen sich vom Studium, beide sind Fans von hochwertigen Herrenschuhen. Doch gerade bei edlen Maßschuhen stoßen Maschinenbauer Mafi und Elektrotechniker Jahn an ihre finanziellen Grenzen. Könnte nicht ein Algorithmus den Maßschuh-Prozess vereinfachen und das Ganze günstiger machen? Neben ihren festen Jobs treiben die beiden in ihrer Freizeit die Idee weiter voran. Schnell wird ihnen klar: „Wir benötigen einen Partner aus dem Handwerk“, erinnert sich Mafi heute. 2018 besuchen sie ein Dutzend Maßschuh-Manufakturen, irgendwann öffnen sie auch die Tür in der Merkurstraße 3–5 in Baden-Baden. Bei Vickermann und Stoya. „Wir haben relativ schnell festgestellt, dass die Chemie stimmt“, erzählt Mafi. Und Vickermann ergänzt: „Wir sind der handwerkliche Partner im Projekt.“

Denn zu dieser Zeit hatten sich der gelernte Orthopädieschuhmacher Stoya und der gelernte Schuhmacher Vickermann mit ihrer gleichnamigen Schuhmanufaktur schon einen Namen gemacht. Als Top-Adresse, die nationale und internationale Kunden mit ihren edlen Maßschuhen und feinster Handwerkskunst begeistert. Zum Hintergrund: Beide Schuhmacher lernten sich 2004 kennen und gründeten bereits ein Jahr später ihr Unternehmen mit dem Namen Vickermann & Stoya. Verkauften die Gründer im ersten Jahr noch 17 Paar Schuhe, verlassen heute rund 270 Paare jährlich die Manufaktur. In Handarbeit fertigen sechs Mitarbeiter klassische Damen- und Herrenschuhe, aber auch Sportschuhe und Sonderanfertigungen aus Exotenleder gehören zum Portfolio. Ebenso kommt das Thema orthopädische Versorgung in Baden-Baden nicht zu kurz.

„Wir verbinden handwerkliche Tradition mit modernen orthopädischen Komponenten“, bringt Unternehmer Vickermann die Firmenphilosophie auf den Punkt. Und was macht für ihn gutes Handwerk aus? „Die handwerkliche Tiefe im Produkt, das Schöpferische und natürlich auch die Weitergabe an die nächste Generation“, betont er. „Dass die Kunst nicht ausstirbt.“

Zwei Welten, ein Projekt

Aber wie passen diese zwei Welten zusammen? Hier das Know-how von Mafi und Jahn, unterstützt vom Institut für Produktentwicklung und Gerätebau (IPEG) der Leibniz Universität Hannover unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Roland Lachmayer; dort die Maßschuhe in qualitativ hochwertiger Handwerkstradition. Und die zweite Frage: Können diese zwei Welten überhaupt harmonieren? Hier die Expertise für Digitalisierung, Daten und Künstliche Intelligenz (KI); dort das Gefühl für hochwertige Materialien und spezielle Kundenwünsche.

Es muss der besondere Reiz sein, diese zwei Welten erfolgreich zusammenführen zu wollen und die Digitalisierung für die Herstellung des perfekten Schuhes zu nutzen. Noch dazu, ohne dass der Kunde überhaupt seine Schuhgröße angeben muss. Diese sei nämlich immer nur ein Kompromiss zwischen niedrigem Preis und guter Passform, heißt es aus Baden-Baden.

Zehn Schritte zum Schuh

Für dieses anspruchsvolle Ziel gehen die kürzlich mit dem Seifriz-Preis prämierten Projektpartner einen komplett neuen und nachhaltigen Weg – in zehn Schritten. Drei davon dank der App direkt beim Kunden selbst, vier im intelligenten IT-System und weitere drei wiederum für die Herstellung von Leisten & Co.

Der Kunde schnappt sich also einfach sein Smartphone, fotografiert seine Füße aus drei verschiedenen Perspektiven und gestaltet seinen Schuh in einem 3-D-Konfigurator. Den restlichen Prozess auf dem Weg zum garantiert passenden Schuh übernehmen dann die App respektive die Herstellung. „Unser Verfahren basiert auf maschinellem Lernen“, erläutert Mafi. Die Software konstruiert dann vollautomatisch die individuellen Maßschuhe und erstellt sämtliche Produktionsdaten.

Handwerks-Know-how essenziell

Und der Input aus dem Handwerk? Normalerweise nimmt man im Hause Vickermann & Stoya bei der Maßschuh-Fertigung fünf, sechs Messungen am Fuß des Kunden vor. Zudem gibt es noch eine Besonderheit beim Erstkontakt in Baden-Baden: „Zuallererst schauen wir uns die Schuhe des Kunden an“, so Vickermann. Hier könne man einige Rückschlüsse ziehen, etwa wie der Kunde geht. Im neuen Prozess fällt dies aber alles weg, die Software muss es jetzt alleine schaffen. Nur wie erklärt man ihr das? Wie bekommt man beispielsweise den perfekten Leisten hin? Gerade auch für Antworten auf solche Fragen bringen die Schuhmacher Vickermann und Stoya ihr langjähriges Fachwissen ein. Sei es zu Orthopädie und Biomechanik, sei es zu Lederkunde, sei es zum Fuß-Komfort-Gefühl des Kunden.

Spannendes Standbein

Mittlerweile sind die vier Projektpartner Gesellschafter der in diesem Jahr gegründeten Modum Shoes GmbH . Für die Handwerksunternehmer Vickermann und Stoya stellt dieses Start-up ein neues, innovatives Standbein dar. Ein Standbein, das die Maßschuh-Herstellung mit modernster, digitaler Technologie kombiniert. „Das Ergebnis sind personenbezogen gefertigte Schuhe mit perfekter Passgenauigkeit, die aufgrund der genutzten Serienfertigungstechnologien zu einem attraktiven Preis angeboten werden können“, so die Projektpartner.

Und das Angebot der virtuellen Maßschuh-Macher stößt auf Resonanz: Wenige Stunden nach dem Live-Gang der Website liegen bereits 500 Vorbestellungen vor – von Kunden aus der ganzen Welt.

10 Schritte zum perfekten Schuh: Von der Bestellung bis zur Fertigstellung

Die digitale Prozesskette zur automatischen Konstruktion von Maßschuhen überzeugte die Seifriz-Preis-Jury. Das Verfahren basiert auf maschinellem Lernen. Die Software konstruiert vollautomatisch die individuellen Maßschuhe.

Kunde
  1. Schritt: Der Kunde lädt sich eine App auf sein Smartphone.
  2. Schritt: Der Fuß wird vom Kunden aus drei Ansichten fotografiert.
  3. Schritt: Der Kunde wählt sein gewünschtes Schuhmodell aus.
App
  1. Schritt : Automatische Berechnung der Fußgeometrie (3-D).
  2. Schritt : Berechnung der optimalen Schuhgeometrie (3-D).
  3. Schritt : Berechnung aller schuhspezifischen Daten zur Konfektionierung der Schuheinzelteile.
  4. Schritt : Berechnung der Leisten und Aufbereitung für den 3-D-Druck.
Herstellung
  1. Schritt: Drucken der Leisten mithilfe der errechneten Daten.
  2. Schritt: Zuschnitt der berechneten Leder- und Sohlenteile.
  3. Schritt: Herstellung des Schuhs mit den gedruckten Leisten und den zugeschnittenen Einzelteilen.