Arbeitsschutz bei Höhenarbeit Absturzunfälle: Warum Routine so oft tödlich endet

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Ein falscher Schritt oder ein kurzer Moment der Unachtsamkeit – die meisten Absturzursachen sind banal, aber lebensgefährlich. Weil hinter jedem dritten tödlichen Arbeitsunfall ein Absturz steckt, will die BG Bau die Risiken eindämmen. Wie das trotz ­falschem Heldentum der Mitarbeiter gelingen kann.

Gefährlicher Balanceakt: Höhenarbeit ist in vielen Handwerksbranchen selbstverständlich, sorgt aber auch für zahlreiche schwere Unfälle.
Gefährlicher Balanceakt: Höhenarbeit ist in vielen Handwerksbranchen selbstverständlich, sorgt aber auch für zahlreiche schwere Unfälle. - © BG Bau

Passend zur BAU, dem größten Messe-Event der Baubranche in München, sorgte eine Meldung der Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) für Schlagzeilen: „74 Bauarbeiter wurden 2022 tödlich verletzt, statistisch gesehen ereignete sich damit alle dreieinhalb Arbeitstage ein tödlicher Unfall“, fasste der IG-Bundesvorsitzende Robert Feiger die vorläufigen Zahlen der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) zusammen. Diese bestätigte auf Anfrage die Zahlen, verwies aber auf deren „vorläufigen Charakter“ und die voraussichtlich im Juni 2023 zur Verfügung stehenden Daten.

Doch unabhängig davon, wie viel tödliche Unfälle es auf deutschen Baustellen 2022 tatsächlich gab, jeder Arbeitsunfall mit Todesfolge ist nicht nur nach Einschätzung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) einer zu viel. Schon vor 15 Jahren hat die DGUV deshalb in ihrer Präventionsstrategie die Vision Zero verankert: eine Welt ohne Arbeits­unfälle und arbeitsbedingte Erkran­kungen. Zwar hat sich die Zahl der töd­lichen Unfälle seitdem klar reduziert, liegt aber über alle Branchen in Deutschland noch immer im dreistelligen Bereich.

300 Millionen Euro Schaden

„Das Interesse am Arbeitsschutz ist auch bei den Betrieben im Handwerk groß, hat dort aber nicht so eine lange Tradition wie in der Industrie“, weiß Harald Dippe, Präventionsexperte der BG Bau im Sachgebiet Hochbau. Kurz zuvor hat er auf der Ak­tionsfläche am Messestand ein Live-Event moderiert, das Unternehmer und Mitarbeiter über Alternativen zur Verwendung der unfallträchtigen, aber vor allem auch im Handwerk beliebten Leitern informierte (siehe Bildergalerie). Rund 300 Millionen Euro Kosten verursachen etwa Leiterun­fälle bei der BG Bau laut Dippe jedes Jahr. Ein stolzer Betrag, der sowohl die Gefahren als auch die Beliebtheit des Arbeitsgeräts widerspiegelt. Denn gerade im Dauereinsatz häufen sich die Unfälle, weil die Mitarbeiter wenig mobil sind und sich ständig strecken und ausbalancieren müssen, oft zum Teil noch mit schwerem Arbeitsgerät. Das ermüdet, beeinträchtigt die Konzentration und erhöht die Absturzgefahr. Hinzu kommt, dass häufig auch Dritte mit Baugeräten oder Material unabsichtlich die Leiter zum Kippen bringen.

Großes Risiko auch bei kleinen Höhen

„Egal, aus welcher Höhe ein Sturz erfolgt, es gibt immer nur null oder eins“, bringt Experte Dippe das Besondere bei den Abstürzen auf den Punkt. So könne ein Sturz aus einem Meter manchmal komplett harmlos sein, wenn es jedoch unglücklich läuft, kann der gleiche Sturz auch tödlich enden. Letztendlich, so der Experte, müsse jeder Unternehmer für seine Anforderungen und seine Baustellen immer eine individuelle Lösung finden: „Es gibt keine verbindliche Sicherheit, die für alle funktioniert.“ Um das Risiko für einen Arbeits­unfall so gering wie möglich zu halten, müssen Unternehmer für jeden Arbeitsplatz und für jede Baustelle eine Gefährdungsbeurteilung erstellen und die Mitarbeiter auf deren Basis über mögliche Risiken auf­klären.

Gefährdungsbeurteilung: 70 Prozent verstoßen gegen die Vorschriften

Wie eine Analyse der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BauA) in Dortmund zeigt, gab es bei knapp einem Viertel der tödlichen Absturzun­fälle seit 2009 keine aktuelle und vollständige Gefährdungsbeurteilung, in über 70 Prozent der Fälle wurde gegen sicherheitstechnische Vorschriften verstoßen. Dabei hätten sich die Unfallfolgen nach Einschätzung der Unfallermittler in knapp 30 Prozent der Fälle durch Absturzsicherungen sehr wahrscheinlich abmildern lassen.

Fatale Selbstüberschätzung: Routine führt zu mehr Risiko

Bleibt ein Punkt, der zwar nicht in der Statistik auftaucht, nach Erfahrung des Experten Harald Dippe im Handwerk jedoch immer noch eine Rolle spielt: das Heldentum. „Manche Mitarbeiter“, so Dippe, „finden es einfach normal, ohne Sicherung zu arbeiten, weil sie es schon immer so gemacht haben.“ Dafür spricht, dass es laut BauA-Statistik vor allem die Routiniers über 40 Jahre sind, die seit 2009 einen tödlichen Absturzunfall bei der Arbeit erlitten haben. Dass ausgerechnet die Erfahrenen mehr Risiko eingehen, ist im Arbeitsschutz ein bekanntes Phänomen, wie der BG-Experte bestätigt: „Routine führt oft zu ­weniger Sorgfalt und mehr Risiko.“