BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen: Sven Giegold Europawahl 2019: "Wir brauchen einen Green New Deal"

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Sven Giegold, Spitzenkandidat von BĂŒndnis 90/Die GrĂŒnen, will den Mittelstand mit der Förderung von Klima- und Umwelttechnologien sowie durch neue Bildungsangebote fit fĂŒr die Zukunft machen.

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Sven Giegold, Spitzenkandidat von Bündnis90/Die Grünen für die Europawahl 2019. - © Annette Cardinale
Wie können wir ein von mittelstÀndischen Unternehmen geprÀgten Europa denn entwickeln bzw. erhalten?

Der Anspruch Europas muss doch sein, dass es hier nicht nur Start-Ups gibt, sondern auch solche, die es schaffen in WeltmarktfĂŒhrerpositionen zu kommen, Ă€hnlich wie das ja unsere Unternehmen frĂŒher geschafft haben. Das heisst: Unsere StĂ€rke beruht darauf, dass wir familiengefĂŒhrte Unternehmen haben, die dem langfristigen Unternehmenserfolg verpflichtet sind, oft basierend auf neuen Produktideen, und nicht nur einem kurzfristigen Shareholder-Value, Doch in den neuen Sektoren ist das Bild eben sehr gemischt. Wir haben etwa in der Digitalwirtschaft massiv neue Start-Ups. Aber wie viele von denen schaffen es grĂŒndergefĂŒhrt groß zu werden? Das passiert leider sehr selten.

Es gibt kein europÀisches Google oder Facebook 


Genau, und sehr viele der Unternehmen mit dem entsprechenden Potenzial werden von Google oder Apple aufgekauft, bevor sie die kritischen GrĂ¶ĂŸen erreichen. Das muss uns zu denken geben. Wie schaffen wir die richtige Basis, damit auch neue Unternehmen den Sprung zu einem neuen Mittelstand schaffen. Denn wir verlieren ja auch immer Unternehmen. Weil etwa keine Nachfolger gefunden werden oder ein Unternehmen nicht ĂŒberlebensfĂ€hig ist. Das ist ganz normal in einer Marktwirtschaft.

Doch es stellt sich etwa die Frage: Was sind die richtigen Wachstumsfinanzierer? Die haben wir in Deutschland nicht und auch in Europa gibt viel zu wenig davon. Wir haben zwar zunehmend Start-Up-Finanzierung. Doch bei Wachstumsfinanzierung gibt es ein großes Fragezeichen.

Was also tun?

Man muss ZukunftsmĂ€rkte definieren, auf die man die öffentliche Förderung konzentriert. Hier gehört die ökologische Transformation ganz nach vorne. Wer zuerst umfassend in den verschiedenen Sektoren die Lösung fĂŒr die Zwei-Grad-Welt schafft, wird auch auf Dauer WeltmarktfĂŒhrer sein. Wir mĂŒssen die Förderung auf die ZukunftsmĂ€rkte konzentrieren und weg vom Subventionieren der Vergangenheit. Das Geld, das wir heute in die Subventionierung in die fossilen EnergietrĂ€ger stecken, gehört in die Zukunftswirtschaft und nicht in die Vergangenheit. Wir sind ganz klar dafĂŒr, dass man diese ökologisch schĂ€dlichen Subventionen konsequent abbaut und das Geld dann nimmt, um in einen Green-New-Deal zu investieren, also in den Aufbau dieser ZukunftsmĂ€rkte.

Das beinhaltet auch, Innovationen im Mittelstand stÀrker zu fördern?

Das Land, das diese ZukunftsmĂ€rkte zuerst fördert, gibt seinen Start-Ups einen Startvorteil. Der Startvorteil liegt darin, dass die Bedingungen die kĂŒnftig vorherrschen im eigenen Raum zuerst vorgeherrscht haben. So ist beispielsweise unsere Umwelttechnik groß geworden. Wir haben eine unglaublich starke Umwelttechnikbranche. Eine Million Jobs kommen auf die Umweltbranche, viel davon mittelstandsgefĂŒhrt. Sie ist entstanden, weil es in Deutschland viele Leute gab, die sich um Umweltfragen Sorgen machten. Das galt auch fĂŒr viele Unternehmer. Und schließlich waren am Anfang die Regeln strenger als anderswo. Das pusht die Innovation. Heute haben wir in diesen Bereich deshalb viele WeltmarktfĂŒhrer. Die Umwelttechnikbranche ist in einer Zeit entstanden, als sich die CDU noch getraut hat, in Deutschland hĂ€rtere Umweltstandards zu fordern, als der Rest Europas. Heute ist umgekehrt: Die CDU fordert schlechtere Weltmarktstandards, weil sie behauptet, das sei ein Risiko fĂŒr die ArbeitsplĂ€tze und den Standort. Doch das Gegenteil ist richtig: Nur wer Zukunftswirtschaft mit eigenen Regeln vorwegnimmt, schafft den Standortvorteil .

Dazu brauchen wir aber FachkrÀfte.

Ein zweiter Punkt ist fĂŒr Europa wichtig: Deutschland hat ein massives ArbeitskrĂ€fte-Problem, das mit dem Begriff „FachkrĂ€ftemangel“ völlig beschönigend beschrieben ist. Wir haben inzwischen immer mehr Probleme ĂŒberhaupt noch Leute zu finden, die ganz grundlegende Dinge schaffen, z.B. zuverlĂ€ssig ihre Arbeit zu erledigen. Wir haben viele Menschen, die haben Sprachprobleme, die haben vielleicht auch gesundheitliche Probleme, die brauchen besondere UnterstĂŒtzung, um im Arbeitsmarkt anzukommen. Was viele Arbeitgeber suchen, sind Leute, die einfach ausbildungsfĂ€hig und -willig sind und die Basisqualifikationen besitzen. Deutschland muss sich systematisch bemĂŒhen, ArbeitskrĂ€fte aus dem EU-Ausland, aber auch darĂŒber hinaus nach Deutschland zu bekommen. Wir haben in anderen europĂ€ischen LĂ€ndern nach wie vor Jugendarbeitslosigkeit. Er gibt in Deutschland viele BĂŒrgermeister und Handwerksunternehmer, die sich konkret auf die Suche nach ArbeitskrĂ€ften machen. Aber wo ist das Programm der Bundesregierung den europĂ€ischen Binnenmarkt wirklich zu nutzen, um diese ArbeitskrĂ€fteprobleme zu lösen?

Junge Menschen etwa aus Portugal zu uns?

Ja, natĂŒrlich, wir sollten doch froh sein, ĂŒber jeden der hier arbeiten will. Und das sind Menschen, bei denen die Integration ungleich leichter funktioniert, als in anderen Gruppen, die weltweit gerne zu uns kommen wollen. Warum wir das hier in Europa nicht systematischer versuchen, kann ich nicht verstehen. Die Bundesregierung sieht da weitgehend tatenlos zu. Das liegt auch daran, dass Horst Seehofer glaubt, dass er solche Programme seiner Klientel nicht zumuten kann. Die RealitĂ€t ist aber lĂ€ngst anders: Es gibt hochengagierte bayerische BĂŒrgermeister, die Angst haben, dass ihre mittelstĂ€ndischen Unternehmen abwandern, wenn sie das nicht hinbekommen. Hier muss doch mal die Bundesregierung versuchen, das Recht, was die Menschen haben, anzuwenden, nĂ€mlich in einem anderen Teil des EU-Binnenmarktes zu arbeiten.

Was Hans Peter Wollseifer an Kommunikationsarbeit in dieser Hinsicht leistet, das ist ja enorm. Er hat ja voll verstanden, dass Deutschland gefĂ€hrdet ist, wenn das Klima fĂŒr Menschen die zu uns kommen wollen, kaputt geht. Und da sehen wir ihn als BĂŒndnispartner und das Handwerk als BĂŒndnispartner. FĂŒr mich ist das Handwerk die Integrationsmaschine ĂŒberhaupt. Ich erwarte von der Bundesregierung, ein Programm aufzusetzen und Menschen einzuladen nach Deutschland zu kommen. Das traut sich aber Seehofer nicht, weil er Angst vor seinen bayerischen Bierzelten hat.

Wie sehen Sie die deutsche Meisterpflicht aus europÀischer Perspektive?

Die regelmĂ€ĂŸig wiederkehrenden Versuche der EU-Kommission unsere Bildungsstandards als Marktzutrittshemmnis umzudefinieren, zeigen ein völliges MissverstĂ€ndnis, was der Binnenmarkt sein soll. Er bedeutet nicht, dass in allen Teilen des Binnenmarktes per BrĂŒsseler Gesetz Gleichheit hergestellt wird. Unsere Duale Ausbildung funktjoniert deshalb so gut, weil wir einen hohen Anreiz haben, einen Meisterbrief zu erhalten. Das gleiche gilt fĂŒr die GesellenprĂŒfung. Meine Freunde im Ausland beklagen sich immer wieder ĂŒber fehlende QualitĂ€tsstandards im Handwerk außerhalb Deutschlands. Deshalb sind unsere hohen Standards richtig. Es muss aber einen realen Zugangsweg geben, diese Qualifikation zu erwerben. Etwa, dass man durch PrĂŒfung beweisen kann, dass man das gleiche Niveau hat. Doch dieser prĂŒfungsbasierte Zugang darf nicht durch Dumping vergeben werden, denn dann ist er nichts mehr wert. Deshalb bin ich fĂŒr die Verteidigung der Meister- und Gesellenstandards, auch wenn ich weiß, dass das in meiner Partei nicht von allen geteilt wird.

Zinswende ist erst einmal abgeblasen 


Ein schwierige Debatte. Man muss erklĂ€ren, dass es kein Naturrecht auf Zinsen gibt. Zinsen entstehen dann, wenn es Wachstum gibt. Wenn wir aber in der Eurozone keine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik machen und die Wirtschaft deshalb nicht richtig im Fahrt kommt, dann bleibt auch der Zins niedrig. Die EZB ist ein SĂŒndenbock. Sie hat mit ihrer laxen Geldpolitik viele SchĂ€den angerichtet, aber sie musste das tun, um den Euro zu stabilisieren. Das war nötig, weil sich die Regierungen der MitgliedslĂ€nder sich nicht auf eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik einigen konnten. Deutschland war nicht bereit, die Investitionen zu erhöhen, einige sĂŒdliche LĂ€nder waren nicht bereit ihre Reformen zu machen. Und jetzt haben wir den Salat. Wir GrĂŒnde sagen: Die die EZB beschimpfen, sondern gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik machen.

Wie kann man sich die vorstellen?

Wenn man Wachstum braucht, muss man Investitionen sicherstellen - und zwar in Bildung, in ökologische Zukunftsbranchen. Wenn das nicht stattfindet, dann hat die EZB keine Alternative zu einer sehr laxen Geldpolitik. Der Euro wĂ€re ohne diese Interventionen ja zusammengebrochen. Unsere Idee ist, dass es eine gemeinsame Unternehmenssteuerpolitik in Europa gibt. Dann hört das Steuerdumping auf. Mit einer gemeinsamen Steuerpolitik finanzieren wir gemeinsame Investitionen. Davon hĂ€tten alle in Europa etwas. Das schafft Wachstum, einen positiven Zinssatz und Raum fĂŒr eine solidere Geldpolitik der EZB.

Ist Steuerharmonisierung eine gute Idee?

Ja, natĂŒrlich, doch wir brauchen kein Einheitssteuersystem, sondern wir brauchen bei den mobilen Faktoren MindestsĂ€tze . Sowohl bei den Unternehmen, als auch bei der Besteuerung der sehr Reichen. Denn dort sehen wir Missbrauch des Steuerwettbewerbs durch Verlagerung von Unternehmenssitzen, durch unlauteren Wettbewerb etwa zwischen Amazon und dem lokalen Einzelhandel. Da brauchen wir MindeststeuersĂ€tze. Dass wir sie nicht haben, das schadet am Ende unseren kleinen Unternehmen.

Wie sehen Sie die Zukunft von Europa? Wie geht es aus Ihrer Sicht mit Europa weiter?

Diese Europawahl ist ein entscheidender Moment in der Geschichte Europas: Fallen wir zurĂŒck in einen gefĂ€hrlichen Nationalismus, der in der Geschichte immer wieder in große Katastrophen gefĂŒhrt hat? Kapituliert die Politik vor der Globalisierung? Oder erneuern wir Europa als starke Gemeinschaft und bauen ein Europa des Klimaschutzes, der Demokratie und der Gerechtigkeit? FĂŒr uns ist klar: Wir wollen Europas Versprechen erneuern!

In welchen Beeichen gibt es aus Ihrer Sicht besonderen Reformbedarf?

Europa braucht dringend VerĂ€nderung in Richtung Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und europĂ€ische HandlungsfĂ€higkeit. Die Zeit rennt, um den Klimakollaps noch aufzuhalten. Die Europawahl ist eine der letzten wichtigen Wahlen, um das Ruder noch herum zu reißen. Europa muss vorangehen, damit wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens noch erreichen können. Im Klimaschutz liegt auch eine große Chance fĂŒr neue und zukunftsfĂ€hige ArbeitsplĂ€tze und Innovationen.

Was muss gesehen, damit das Projekt Europa erhalten bleibt?

Rund 81% der Deutschen sind heute fĂŒr die europĂ€ische Einigung. Diese 81% sind fĂŒr uns eine Verantwortung. Die Verantwortung, dass in Deutschland Mehrheiten entstehen, fĂŒr ein mutiges Vorangehen mit Europa. FĂŒr ein solidarisches Europa. FĂŒr das Ende der Blockadepolitik der großen Koalition gegen mutige VorschlĂ€ge etwa aus Frankreich. Europa bedeutet europĂ€ische SolidaritĂ€t, nicht nationales Saldo! Europa bedeutet StĂ€rke durch Zusammenhalt, nicht SchwĂ€che durch Spaltung! Wir wollen kein rechtes Europa, wir wollen ein gerechtes Europa.

Kann man wirklich behaupten, dass Europa sei keine Transferunion? Sie ist es doch schon lÀngst 
 alles andere wÀre doch Populismus?

Richtig, Hetze gegen eine Transferunion verkennt: Es gibt schon sozialen Ausgleich in Europa, zum Beispiel in Form der Strukturfonds fĂŒr abgehĂ€ngte Regionen, auch in Deutschland. Unter dem Strich zahlen wir 9 bis 10 Milliarden Euro mehr in die EU-Kasse als wir herausbekommen. Das sind 3 Tausendstel unserer Wirtschaftsleistung. Eine rentablere Investition gibt es gar nicht! Aber Europa kann noch mehr. Wir finden: Große Digitalkonzerne wie Amazon mĂŒssen genauso ihre Steuern zahlen und zum Gemeinwohl beitragen wie die BuchhĂ€ndlerin vor Ort. Mehr Steuergerechtigkeit, zum Beispiel durch eine Digitalsteuer, ist die Finanzierung fĂŒr Investitionen, die allen in Europa zugute kommen, zum Beispiel in Schulen, in den Schienenverkehr oder in Radwege.

Bitte drei kurze Stichworte, wie wir das Migrationsproblem von Europa lösen können.

Europa muss seiner humanitĂ€ren Verantwortung gerecht werden. Wir wollen ein Europa, das Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen mĂŒssen, Schutz gewĂ€hrt. Dazu gehört Europas Grenzen zu kontrollieren, damit wir wissen wer kommt, sie aber nicht abriegelt. Europa muss das Sterben im Mittelmeer durch legale Fluchtwege und ein ziviles Seenotrettungsprogramm beenden. Ein europĂ€ischer Integrationsfonds sollte Kommunen und Regionen unterstĂŒtzt, die im Rahmen eines einheitlichen europĂ€ischen Asylsystems mit einem fairen und solidarischen Verteilungsmechanismus Migranten aufnehmen. Darauf warten StĂ€dte von Polen bis Portugal. FĂŒr Menschen, die zum Arbeiten kommen wollen, brauchen wir ein EU-Einwanderungsrecht. Das ist ein Beitrag gegen den wachsenden Mangel an ArbeitskrĂ€ften in Deutschland. Gerade wir in Deutschland können uns nicht leisten, das ein fremdenfeindliches Klima entsteht. Damit schaden wir uns selbst, gerade auch wirtschaftlich.

Herr Giegold, vielen Dank fĂŒr das GesprĂ€ch.

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