"Fachkräftemangel" im Parlament Bundestag: Warum stammen so wenige Abgeordnete aus dem Handwerk?

Zugehörige Themenseiten:
Bundestagswahl 2021

Größer, jünger, weiblicher und diverser ist der aktuelle Bundestag. Was allerdings seine Mitglieder aus dem Wirtschaftszweig ­Handwerk betrifft, ist im Vergleich zur vorigen Legislaturperiode ein Rückgang zu verzeichnen. Von den 736 Abgeordneten sind es nur 15, in der vergangenen ­Wahlperiode waren es noch fast doppelt so viele. Woran das liegt? Eine Spurensuche.

Alois Rainer aus Straubing
Alois Rainer aus Straubing, Bundestags­abgeordneter für die CSU und Metzgermeister. - © François Weinert

Alexander Engelhard ist neu im Deutschen Bundestag und fühlt sich dort manchmal noch wie ein Auszubildender im ersten Lehrjahr. „Wer es gewohnt ist, zeitoptimiert zu arbeiten, der muss sich umstellen“, sagt der Müllermeister aus Neu-Ulm. Der Neuling ist hochmotiviert, das Bewusstsein für Handwerksbetriebe ins Parlament zu tragen. In diesem Zusammenhang spricht er von der psychischen Belastung, der Inhaber von kleinen Betrieben durch behördliche Auflagen und Verordnungen ausgesetzt sind: „An die schlaflosen Nächte denkt niemand, der vom Schreibtisch aus Verbraucherschutz betreibt und den Konsumenten jegliche Verantwortung für ihr Verhalten abspricht.“

Engelhard betreibt mit vier Mitarbeitern eine Mühle in 600-jähriger Familientra­dition. Er sagt, er sei ein großes Arbeits­pensum gewohnt. Aber ein gravierender Unterschied zwischen dem selbstständigen Müllermeister und dem CSU-Abgeordneten Engelhard sei die Entscheidungsfreiheit: „Im Bundestag wird die Zeit fremdbestimmt intensiv durchgetaktet. Aber meine Erfahrung als Selbstständiger hilft bei der Organisation meines Abgeordnetenbüros.“ Der 49-Jährige ist zuversichtlich, dass er mit seinem politischen Engagement etwas für das Handwerk bewirken kann: „Schließlich bin ich ganz bewusst für die kleinen Handwerksbetriebe in den Bundestag gegangen.“

Zuhören ist wichtig

Wie Engelhard sieht auch der Maurer- und Betonbauermeister Hagen Reinhold den Bundestag als Arbeitsauftrag auf Zeit. „Ein großer Vorteil ist, dass man von der Politik nicht abhängig ist“, erklärt der FDP-Abgeordnete aus dem Rostocker Landkreis. Für ihn ist es die zweite Legislaturperiode, er fühlt sich von seiner beruflichen Herkunft her nicht als Exot. Im Gegenteil: Reinhold hat den Eindruck, dass seine fachliche Kompetenz im Ausschuss für Bauen und Wohnen wertgeschätzt wird: „Es ist sinnvoll, wenn der richtige Erfahrungsschatz in den einzelnen Fachgremien genutzt wird. Nur das macht die Gremienarbeit erfolgreich.“ Als Abgeordneter müsse man einen 360-Grad-Blick entwickeln und versuchen, Probleme aus der Sicht anderer zu verstehen: „Zuhören ist wichtig.“ Als geschäftsführender Gesellschafter seines Bauunternehmens gehört Reinhold dem IHK-Präsidium an und steht somit auch in ständigem Austausch mit der Handwerkskammer. Sein Bundestagsmandat begreift er als Auftrag, „die Heimat besser zu machen.“

Mehr Praxisnähe

Wie wichtig die Erdung durch das kommunale Umfeld ist, weiß auch Reinholds Parteikollege Manfred Todtenhausen aus Wuppertal. Er nutzt seit 2017 seine sitzungsfreien Wochen im Wahlkreis jeden Morgen für ein Handwerkerfrühstück. Der Elektroinstallateurmeister: „Als Handwerker ist nicht reden, sondern machen das Ziel. Man will fertig werden, den Kundenauftrag abarbeiten. Wenn man als Handwerker in die Politik geht, muss man lernen, geduldig zu sein. Die Prozesse brauchen Zeit.“ Dennoch hat er sich für die 20. Wahlperiode viel vorgenommen: „Beim Bürokratieabbau werde ich ganz genau hinschauen. Ich setze mich für ein bürokratiearmes Gründungsjahr ein.“ Innerhalb seiner Fraktion wird Todtenhausens Expertise geschätzt. So wurde er zum handwerkspolitischen Sprecher gewählt. „Ohne die Betriebe aus Handwerk und Mittelstand sind die Energiewende, der Aufbruch in moderne Digitalisierung und nachhaltige Mobilität nicht zu bewerkstelligen.“

Was die Betriebe bewegt, beschäftigt auch den CDU-Mann Hermann Färber. Nach acht Jahren im Bundestag fühlt er sich immer noch als Exot, weil er zu der Gruppe der Abgeordneten gehört, „die Politik von der praktischen Seite anschaut“. Aber optimal sei es doch, „wenn sich die Sichtweisen ergänzen“. Für den Land­maschinenmechaniker und Landwirt steht die Frage im Vordergrund, wie die Menschen in der Praxis mit den Gesetzen zurechtkommen: „Die Gesetze sollen doch niemanden in die Illegalität treiben!“ Diese „andere“ Sichtweise verbindet Färber mit fast allen Abgeordneten, die aus praktischen Berufen in die Politik gewechselt sind. Allen gemeinsam ist der Wunsch nach mehr Praxisnähe.

Keinen Goldstaub verschwenden

Diese Sichtweise geht auch nicht verloren, wenn man fast 20 Jahre als Bundestags­abgeordnete aufweisen kann. Bettina ­Hagedorn war zuletzt unter Olaf Scholz parlamentarische Staatssekretärin im ­Finanzministerium, jetzt wird sie weiterhin im Haushaltsausschuss darauf achten, „dass sorgfältig mit den Ressourcen umgegangen wird“. „Keinen Goldstaub verschwenden!“ hat sie als Goldschmiedin gelernt und verinnerlicht. Sie sieht durchaus Parallelen zwischen der Politik und ihrem kreativen Erstberuf: „Man muss sein Handwerk verstehen, dann kann man erfolgreich sein.“ Die Eutiner SPD-Abgeordnete kann ihrer Arbeit dort, wo Entscheidungen über das Geld der Bürger gefällt werden, viel abgewinnen: „Für diese Entscheidungen braucht man Vorstellungsvermögen und Kreativität.“ Die Wertschätzung des Handwerks sei die Grundlage für alles, findet Hagedorn und tut einiges dafür, keine Kluft zwischen den beiden Welten entstehen zu lassen. So hat sie etwa gerne Handwerker als Praktikanten in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro.

Ergebnisse der Politik nachvollziehen können

Während Hagedorn sich so den Bezug zu der Klientel, die sie im Bundestag vertritt, nicht verliert, kann MdB Alois Rainer aus Straubing durchaus von sich sagen, dass er Metzger geblieben ist. Zwar führt sein Sohn das Unternehmen mit drei Filialen, aber wann immer die Abgeordnetentätigkeit ihm Zeit dazu lässt, arbeitet der Senior im Betrieb mit. „Das erdet“, meint Rainer, und im Übrigen habe das schon sein Vater so gemacht, der die Metzgerei und sein Bundestagsmandat unter einen Hut gebracht habe. Rainer versucht, regelmäßig an den Innungsversammlungen teilzunehmen und seine Kontakte zu pflegen – vom einzelnen Kollegen bis hin zur Handwerkskammer. Als Abgeordneter müsse man doch nachvollziehen können, was die Ergebnisse der politischen Arbeit für das Handwerk und die Menschen im Wahlkreis bedeuten.

Wertschätzung des Handwerks

Seit Rainer 2013 für die CSU in den Bundestag kam, war er acht Jahre lang Mitglied im Landwirtschaftsausschuss, davon vier Jahre als ordentliches und vier Jahre als stellvertretendes Mitglied. „Ich habe schon einige Male mein Veto eingelegt, wenn im Lebensmittelbereich etwas über die EU-Vorgaben hinaus beschlossen werden sollte, das ich als unsinnig empfand.“ Aufgrund seiner neuen Funktion als Vorsitzender des Finanzausschusses ist er jetzt zwar nicht mehr aktiv im Landwirtschaftsressort tätig, behält das Thema aber im Auge. „Wir müssen selbst positiv über unseren eigenen Berufsstand reden“, findet Rainer. „Da sind wir auch politisch gefragt.“ Den Masterplan gebe es nicht, jedoch: „Ich denke, die Wertschätzung für das Handwerk wird besser. Aber an diesem Pflänzchen muss man arbeiten.“

Woran kann es liegen, dass so wenige Praktiker und vor allem immer weniger Handwerker im Bundestag anzutreffen sind? In den Reihen der Linken und der Grünen gibt es keinen einzigen.

Was bedeutet Demokratie?

Die wohl bekanntesten und auch am längsten bundespolitisch aktiven Handwerker sind der promovierte Müllermeister Peter Ramsauer (CSU) und der Elektromeister Jens Köppen (CDU). Ebenso lange wie Köppen im Bundestag – nämlich seit 2005 – ist Josip Juratovic. Er macht sich schon länger Gedanken über die fortschreitende Akademisierung der Parlamente. Das beginne schon bei den Nominierungskriterien innerhalb der Parteien: „Die repräsentative Demokratie spiegelt sich nicht in der Vielfalt des Bundestages wider.“ Für Juratovic, der als Kfz-Mechaniker bei Audi gearbeitet hat, ist es von Mal zu Mal schwieriger geworden, einen sicheren Platz auf der SPD-Landesliste zu bekommen. Bis 2017 gelang ihm immer die Wiederwahl als Direktkandidat, diesmal war er auf seinen Listenplatz angewiesen. Den Wahlkreis Heilbronn hat ein Jurist von der CDU erobert.

„Die repräsentative Demokratie ist in ­äußerster Gefahr. Wir brauchen eine grundlegende Diskussion über unsere Gesellschaftsform“, sagt Juratovic. „Was bedeutet Demokratie?“ Diese Frage müsse in die Schulen getragen werden. „Die Menschen betrachten das Parlament nicht mehr als höchstes Staatsorgan. Die Politik von der Straße schaltet die repräsentative Demokratie nach und nach aus.“ Es fehle an Selbstwert, sogar den Abgeordneten.

Ist die direkte Demokratie die bessere Staatsform?

Juratovic bezeichnet sich als Radikaldemokrat. So würde sich vielleicht auch Stephan Protschka bezeichnen, der als einziger AfD-Politiker mit Handwerks­hintergrund für ein Gespräch zur Verfügung stand. Er sieht die direkte Demokratie als bessere Staatsform an, wie sie in der Schweiz etabliert ist. Der bayerische Landesvorsitzende wünscht sich mehr Volksabstimmungen, weil er die Arbeitsweise der parlamentarischen Demokratie für „Mumpitz“ hält. Er sei 2017, als er in den Bundestag kam, geschockt gewesen, wie behäbig eine Gesetzgebung ist und wie wenig Einfluss man als Oppositionspolitiker darauf habe. Solange das Abgeordnetenmandat ein Vollzeitberuf ist, werde sich daran nichts ändern. In seinem Wahlkreis Rottal-Inn nehme sich der gelernte Elek­troinstallateur viel Zeit für Einzelgespräche. Protschka war bis 2012 CSU-Mitglied, bevor er sich 2012 der Wahlalternative 2013, dem Vorläufer der AfD, anschloss.

Von der Pike auf lernen

Jürgen Berghahn ist einer der Handwerksvertreter aus der SPD und kommt aus der Arbeitnehmerschaft. Seine Erklärung dafür, dass so wenige Handwerker in die Politik gehen, ist einfach: "Politik findet zu Zeiten statt, zu denen im Handwerk gearbeitet wird. Wenn man in einem 14-Leute-Betrieb beschäftigt ist, kann man die Baustelle nicht für eine Ratssitzung verlassen.“ Für die Arbeit als Abgeordneter fühlt sich der Bundestagsneuling gut gerüstet, weil er sowohl kommunalpolitische als auch Landtagserfahrung mitbringt: „Ich halte es für gut, dass man diesen Job von der Pike auf lernt.“ Er sei Elektroinstallateur geworden, weil er sich als Jugendlicher keine Arbeit in einem Büro vorstellen konnte und weil „das Handwerk goldenen Boden“ habe.

Im NRW-Landtag war Berghahn sieben Jahre lang Mitglied im Haushaltsausschuss und im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr. Im Bundestag wird er sich deshalb auf bekanntem Terrain bewegen – als ordentliches Mitglied im Verkehrsausschuss und im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nu­kleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Berghahn hat ­seinen Wahlkreis Lippe I als Direktkandidat erobert, für ihn ein Indiz dafür, dass Bürger Kandidaten aus handwerklichen Berufen gerne ­unterstützen.

Fazit: Alle Handwerker im Bundestag hoffen, dass ihre Stimmen gehört werden und ihre Praxisnähe Gewicht hat – ­frak­tionsübergreifend.

Deutscher Bundestag: Blick ins Parlament

Der 20. Deutsche Bundestag wird stark von Männern dominiert: So beträgt der Anteil an männlichen Abgeordneten derzeit 65,08 Prozent. Der Anteil an weiblichen Abgeordneten liegt demnach bei 34,92 Prozent. Die größte Altersgruppe: die 50- bis 54-Jährigen (16,98 Prozent).

Quelle: Deutscher Bundestag; Stand: 21. Januar 2022

Deutscher Bundestag; Stand: 21. Januar 2022
© handwerk magazin

Ein interessanter Aspekt am Rande: Die Bundestagsabgeordneten müssen sich im Plenarsaal des Deutschen Bundestags – innerhalb der Fraktionen-Einteilung – an keine feste Sitzordnung halten, sprich: Die Ab­geord­neten können sich ihren Sitz frei aussuchen.