Reportage Soziales Friseurhandwerk: Wie die Barber Angels mit der Schere ein Stück Würde zurückgeben

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Die Barber Angels schneiden Bedürftigen die Haare – gratis und inklusive guter Laune, Häppchen und kleinen Geschenken. Manchmal brauchen die Friseure bei ihren Einsätzen eine Extraportion Fingerspitzengefühl, denn die Gäste bringen besondere Geschichten mit. Ein Nachmittag in Bielefeld.

»Ein frischer Haarschnitt gibt den Menschen ein Stück ­Würde zurück.«
Ein frischer Haarschnitt gibt den Menschen ein Stück ­Würde zurück. "Sie fühlen sich dann viel besser", so Friseurmeister Uwe Kennemund. - © Jens Nieth

Schon eine halbe Stunde, bevor es losgehen soll, warten vor dem „Haus der Kirche“, einem Gemeindehaus in Bielefeld, zehn Menschen. Die Kirchenmitarbeiter haben früh am Morgen Stühle rausgestellt, damit keiner im Stehen warten muss. Es ist ein warmer Sonntagvormittag im Juli, die Stimmung im Ostmannturmviertel ist gelöst, die Kaffeekanne wird reihum gereicht. „Bitte wartet, bis wir euch hereinbitten!“, ruft Matthias Blomeier aus der Tür des evangelischen Gemeindehauses. Gedrängelt wird hier aber ohnehin nicht – die Männer und Frauen, die meisten von ­ihnen um die 50 Jahre alt, kennen ­einander und haben genügend mitein­ander zu besprechen.

Auch Blomeier ist im Ostmannturmviertel, das rund zehn Gehminuten vom Bielefelder Hauptbahnhof entfernt liegt, wohl den meisten Menschen bekannt. Er ist Sozialpfarrer des Kirchenkreises Bielefeld und einer der Organisatoren der Veranstaltung, auf deren Beginn die Gäste warten. In den Räumen des Gemeindehauses sind heute nämlich die Barber Angels zu Gast, genauer: die Mitglieder des sogenannten „Chapters“ Ostwestfalen-Lippe. Die Barber Angels sind eine Gruppe aus Friseurinnen und Friseuren, die meist einmal pro Monat gratis Wohnungslosen und Bedürftigen die Haare schneiden. Eine schicke Frisur erscheint vielleicht recht unwichtig, wenn man kein Dach über dem Kopf oder kein gesichertes Abend­essen hat. Aber die Friseure verfolgen ein bestimmtes Ziel: Sie wollen den Menschen durch einen neuen Haarschnitt ein wenig Selbstbewusstsein zurückgeben, das durch schwierige Lebenssituationen, finanzielle Verluste oder ein hartes Leben auf der Straße abhandengekommen ist.

Deutschland, Mallorca und Südamerika

Gegründet wurde der Verein im Jahr 2016 von Friseurmeister Claus Niedermaier. Mittlerweile gibt es weltweit mehr als 400 Barber Angels, die regelmäßig in den Räumen sozialer Einrichtungen denen die Haare schneiden, die sich einen ­Friseurbesuch sonst nicht leisten könnten.

Die meisten Barber Angels sind in Deutschland unterwegs, es gibt allerdings auch in anderen Ländern Ableger des Vereins, zum Beispiel in Österreich, der Schweiz, auf Mallorca und sogar in Chile. Das Markenzeichen aller „Engel“: Sie arbeiten in schwarzer Kleidung, die an eine Motorradkluft erinnert – obwohl nur wenige Mitglieder wirklich Motorrad fahren. Die Kleidung soll einerseits den Wiedererkennungswert der Gruppe steigern. Andererseits unterstreicht es das Motto der Gruppe: Ob Friseur oder Gast, hier ist jeder gleich. Keiner hat besonders teure oder schicke Kleidung an.

13 Uhr, die Türen vom Bielefelder „Haus der Kirche“ gehen endlich auf. Drinnen warten die zehn Engel in schwarzen Kutten, auf der Brust ist der Spitzname eingestickt. Die bürgerlichen Namen werden nicht so gern verraten – aus ­Datenschutzgründen, man weiß ja nie, wem das Engagement missfällt. Gleich geht es also los, die Frisierplätze sind schon vorbereitet: Scheren, Spiegel, Besen, alles ist fertig für den Einsatz. Uwe Kennemund nimmt sich noch Zeit für ein Gespräch, bevor es auch für ihn ans Haareschneiden geht. „Ich habe von den ­Barber ­Angels im Internet gelesen“, er­innert sich der Friseurmeister aus Hiddenhausen, eine Gemeinde nordöstlich von Bielefeld. „Die Idee fand ich einfach toll – so kann man auch ohne viel Geld Menschen unterstützen, denen es zum Beispiel finanziell nicht gut geht.“

Würde zurückgeben

Kennemund leitet den Einsatz in Bielefeld. Einige Gäste, die er heute bedienen wird, kennt er schon. Sie sind seine Stammkunden, manche hat er schon sechs Mal bedient. Generell ist es allen Barber Angels wichtig, dass von Kunden oder Gästen statt von Bedürftigen oder Obdachlosen die Rede ist. „Im Prinzip geht es hier zu wie im normalen Salon“, erzählt der Friseurmeister, während er den Blick über den Raum schweifen lässt und seinen Kollegen beim Waschen, Schneiden und Föhnen zusieht. „Hier wird jeder gleichbehandelt“, sagt Kennemund. „Dieser Umgang und ein frischer Haarschnitt geben den Menschen ein Stück Würde zurück – sie fühlen sich dann viel besser.“ Statt Trinkgeld gibt es für Kennemund und sein Team bei den Einsätzen öfter mal eine herzliche Umarmung von ihren Kunden.

Der Friseurmeister muss jetzt ans Werk, der Terminplan für den Tag im Ostmannturmviertel ist durchgetaktet. Drinnen läuft deutscher Schlager, draußen tummeln sich immer mehr Gäste um das Gemeindehaus. Manche kommen spontan vorbei, die meisten haben vorab einen Termin mit Sozialpfarrer Blomeier vereinbart. Einer von ihnen ist Wilfried Lutterklas, genannt „Willi“. Er wurde gerade schon frisiert, das lange, weiße Haar fällt ihm jetzt wieder glänzend und mit frisch geschnittenen Spitzen über die Schultern. Auch der Bart wurde in Form gebracht. „Mein Friseur hier weiß schon ganz genau, was ich möchte. Ich gehe seit mehreren Jahren zu den Einsätzen“, sagt Lutterklas, während er sich seinen grünen Hut wieder auf den frisch frisierten Kopf setzt. „Ich habe mich schon seit Wochen auf den Termin gefreut.“ Er schiebt seinen Rollator Richtung Ausgang, nimmt sich noch einen Kaffee mit. Lutterklas lebt in einer Wohnung in einem Außenbezirk von Dornberg. Er kennt Veranstalter Blomeier gut, der Pfarrer hat ihn schon durch schwere Zeiten begleitet, über die er zwar gern spricht, die er aber nicht in der Zeitung lesen möchte.

80 Termine am Sonntagnachmittag

Lutterklas geht schon seit rund fünf Jahren zu den Events der Barber Angels in Bielefeld. Eingeladen wurde er über den „Bielefelder Tisch“, eine Suppenküche der ostwestfälischen Großstadt. Über Einrichtungen wie diese lädt Blomeier die Bielefelder zum Einsatz der Friseure ein, er ist gut vernetzt mit den verschiedenen Institutionen. Die pflegen wiederum den Kontakt zu Bedürftigen und Obdach­losen. Blomeier ist, genau wie Friseur­meister Kennemund, im Internet auf den Verein gestoßen. „Rund vier Wochen vor dem Einsatz schicken wir Einladungen raus, heute waren 60 Plätze zu vergeben, 20 Leute können spontan frisiert werden“, erzählt der Sozialpfarrer am Stehtisch an der Eingangstür, auf dem die Gästeliste zum Abhaken bereitliegt. Immer wieder wird er angesprochen und gefragt, ob kurzfristig noch ein Termin frei ist – nicht nur heute ist er der Mann für alles hier im Viertel. Das „Haus der Kirche“ soll eine „Anlaufstelle für unbürokratische Hilfen“ sein, meint Blomeier.

Helfen, das möchte auch Tatti ­Worgull an diesem Sonntagnachmittag. Worgull ist angestellte Friseurin in Herford, seit 2018 ist sie bei den Barber Angels. Ihren ersten Einsatz hatte sie in Paderborn – und zwar als Gastengel. Wer sich der Gruppe anschließen möchte, muss nämlich erst mal einige Probeeinsätze ableisten. „Man weiß ja vorher gar nicht, was einen erwartet“, sagt Worgull. Sie hat heute schon zwei Personen die Haare geschnitten, jetzt findet sie kurz Zeit, um einmal durchzuatmen. „Hier bringt ja jeder Gast eine besondere Geschichte mit, und die sind oft emotional“, erzählt Worgull. „Vor den Einsätzen bin ich deshalb schon immer ein bisschen aufgeregt.“ Ihr ist es genau wie im Salon wichtig, sich Zeit für ihre Gäste zu nehmen und jedem von ihnen unvoreingenommen zu begegnen.

Geschenke und Snacks für alle

Denn auch wenn es allen Barber Angels wichtig ist, dass jeder Mensch gleich­behandelt wird: Die außergewöhnlichen und oft schwierigen Lebenssituationen, in denen die Gäste stecken, müssen doch mitgedacht werden. Bei den Einsätzen gibt es deshalb immer jemanden, der eine Art Security-Funktion erfüllt. In Bielefeld ist das ein junger Mann, der zwar freundlich und gut gelaunt durch das „Haus der Kirche“ läuft – aber mit seinen breiten Schultern im Ernstfall wohl auch für die körperliche Sicherheit der Friseure und Gäste sorgen könnte.

Uwe Kennemund, der heutige Einsatzleiter, sagt: „Wenn die Leute zum Beispiel Alkohol getrunken haben, muss man mit ihnen anders reden.“ Denn sie dürfen die Barber Angels aus rechtlichen Gründen nicht frisieren – genau wie Gäste, die eine Kopfverletzung haben. „Manche sind dann enttäuscht oder werden wütend“, sagt Kennemund. „Aber in aller Regel laufen die Einsätze friedlich ab, die Kunden sind extrem dankbar.“

Schlagermusik und gute Laune

So auch im Bielefelder Ostmannturm­viertel. Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, die Schlagermusik läuft weiter. Der Tisch, an dem das Team rund um Pfarrer Blomeier kleine Snacks, Tee und Kaffee anbietet, leert sich so langsam. Auf einem anderen Tisch liegen kleine Geschenke für die Gäste, zum Beispiel Zahnpasta, Haargel oder Bartpflegeprodukte.

Eine vierköpfige Familie wird gerade fotografiert, es werden Vorher-nachher-Bilder geknipst. Vor der Tür, aus der sich vorhin Willi Lutterklas mit seinem Rollator geschoben hat, sitzen kurz vor Einsatzende dieselben Menschen, die dort auch schon am Mittag saßen. Die Männer und Frauen unterhalten sich, lachen miteinander, genießen die Sonne. Sie wurden längst von Kennemund, Worgull und ihren Kollegen frisiert, die Haare sind frisch geschnitten und die Bärte gestutzt. Nach Hause geht es trotzdem noch nicht. Vielleicht, weil es kein Zuhause gibt.