Zukunft: „Das Systemhandwerk entsteht“

Das Handwerk steht vor einem Industrialisierungsschub, meint Gunter Dueck. Einfache Tätigkeiten werden ausgelagert und als spezielle, preiswerte und schnell verfügbare Dienstleistungen angeboten.

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    © Tim Wegner
    Gunter Dueck war Mathematikprofessor und bis 2011 Cheftechnologe bei IBM in Deutschland. Er arbeitet derzeit als Keynote-Speaker, Buchautor, Netzaktivist und Querdenker zu den Themen technologischer Wandel und neues Verbraucherverhalten. Seine Webseite: omnisophie.com
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    © Ute Schmidt
    Jede Art von Dienstleistung wird jetzt trans­parent, meint Gunter Dueck (li.) im Interview mit Chefedakteur Olaf Deininger.

„Das Systemhandwerk entsteht“

Kein akademisches Viertel. Pünktlich betritt Gunter Dueck die Print Media Academy der Firma Heidelberger Druckmaschinen. Der rund 50 Meter hohe Glaskubus beim Hauptbahnhof zählt zu den beeindruckendsten Gebäuden Heidelbergs. Vom Foyer aus sieht man direkt bis unter die Decke. In zwei Türmen, Druckzylindern ähnlich, sind Besprechungsräume untergebracht. Im elften Stock, mit Blick über Rheinebene und Kraichgau, setzen wir uns zum Interview.

Professor Dueck, Sie betrachten das Geschäfts­modell der Firma Carglass als erstes Anzeichen für einen grundlegenden Wandel im Handwerk. Was steht uns ins Haus?

Im Grunde genommen geht es um Industrialisierung der Handwerksleistung. Carglass ist dabei ein Beispiel, das jeder kennt. Man vollzieht die Managementtechniken nach, die man in der Produktion schon angewendet hat, mit dem Ziel, Dienstleistungen effizienter zu gestalten. Dazu werden Routinetechniken ausgelagert. Im Handwerk nimmt man einfache Dienstleistungen und macht sie speziell.

Konkret am Beispiel Carglass?

Carglass guckt nicht das Auto insgesamt an. Man kann hingehen, bekommt die Bremsen oder die Scheiben gewechselt. Das sind einfache Dienstleistungen; sie gehen viel schneller, sind viel billiger, und die neue Windschutzscheibe ist auch tatsächlich sofort verfügbar. Wenn ich die Scheibe bei einem Vertragshändler wechseln lasse, dann gibt das meist zwei Tage Wartefrist. Das fällt bei solchen Geschäftsmodellen weg.

Kann man das verallgemeinern?

Im Grunde könnte ich das auch auf Zündkerzen, Vergaserfilter usw. ausdehnen. Ich könnte das voll durchindustrialisieren – auf alles, was man am Auto wechseln kann. Das ist dann die exzessive Industrialisierung im Handwerk. Die Idee ist, dass ein ganz normales Auto dann gar nichts mehr hat, es geht nicht mehr kaputt, es müssen immer nur Teile getauscht werden – und das kann man im Prinzip industriell machen.

Haben Sie ein Beispiel aus einer anderen Branche?

Der Gärtnermeister muss jetzt nicht mehr den Rasen mähen oder Hecken schneiden, da kommt einer, der schneidet nur Hecken oder einer mäht nur Rasen. Und dann würde man das nicht von Universalgesellen abarbeiten lassen, sondern diese Spezialtätigkeiten von Leuten zu geringen Löhnen erledigen lassen.

Welche Folgen hat das?

Das macht den normalen Handwerker, der alles durchmischt, obsolet. Der Meister, der alles macht, ist kaufmännisch immer weniger darstellbar. Wenn man das auf andere Bereiche überträgt, etwa auf einen Malermeister, würde man diese Tätigkeiten sozusagen entkoppeln in schwierige Aufgaben – so etwas wie Innendesign und Beratung vorweg – und einfache Aufgaben  – so etwas wie Flächen streichen oder gerade Tapetenbahnen legen. Die einfachen Aufgaben machen dann – sehr hart gesagt – Leute zum Mindestlohn. Aber das ist eine relativ gefährliche Situation, die wir da haben, weil sie auf die Gesellschaft Einfluss nimmt und dadurch Menschen ins Prekariat abwandern. Dieses relativ zynische Abkoppeln von einfachen Arbeiten und das Durchführenlassen von ungelernten Leuten wird ein Problem.

Die Polarisierung der Gesellschaft wird aus ökonomischen Gründen dann noch einmal beschleunigt?

Ja, die rein ökonomisch rechnenden Denkweisen teilen dann alle Tätigkeiten in verschiedene Schwierigkeitsstufen auf. Die niedrigen Stufen werden dann entsprechend der Marktlage sehr gering bezahlt, die höheren Stufen entsprechend besser bezahlt. Aber meistens werden die höheren Stufen vom Kunden gar nicht bezahlt, weil er das nicht einsieht. Oft ist es jetzt so, dass der Meister und dessen Beratung im Preis mit inbegriffen sind. Immer weniger Menschen sind bereit, für den Entwurf, das Konzept oder die Beratung zu bezahlen. Viele Kunden lassen sich vom Fachmann kostenlos beraten, ein Konzept erstellen und ein Angebot machen – und kaufen dann doch bei Ikea oder im Baumarkt.

Gibt es aus technologischer Sicht künftig dann überhaupt noch individuelle Probleme? Oder läuft alles auf den Austausch von Komponenten hinaus?

Die Herstellungs- und Reparatur-Strategien standardisieren sich. Volkswagen baut gleiche Komponenten in einen Porsche und in einen VW Lupo ein. Beim Kühlschrank kommt künftig kein Kundendienst mehr und guckt, was das Gerät hat. Im Kühlschrank ist dann einfach ein Android-Bildschirm, der sich mit dem Internet verbindet, der Kühlschrank sagt dann, was er hat und welches Teil er gerne ausgewechselt haben möchte. Dann kommt ein Kundendienst oder ein Mitarbeiter von Amazon, bringt das Teil, steckt es rein und fertig.

Was wird passieren, wenn mein Auto nicht fährt, es bei der Diagnose aber sagt, es sei völlig okay?

Schwierig! Wenn heutzutage ein Computer sagt: „Rufen Sie beim Support an“, dann bedeutet das meistens, den Computer wegzuwerfen. Wenn ein Gerät wirklich etwas Ernsthaftes hat, ist eine Reparatur oft viel teurer als ein neues Gerät.

Was bedeutet das für die Fähigkeiten, die man im Handwerk künftig weiterentwickeln muss? Entsteht nach Systemgastronomie, die wir alle kennen, auch eine Art Systemhandwerk?

Viele Tätigkeiten fallen einfach weg. Die Betroffenen müssen sich dann weiterqualifizieren und beispielsweise Mechatroniker werden. Oder ganze Bereiche aus einer Hand abbilden, als eine Art Systemlieferant. Bei anspruchsvollen Projekten wird eine Zusammenarbeit einzelner Gewerke immer wichtiger. Viele Betriebe werden deshalb etwa Fachkräftepools anbieten.

Die Tätigkeiten werden arbeitsteiliger, damit rücken aber auch Bereiche wie Koordination der Schnittstellen, Projektmanagement, die Fähigkeit, komplexe Projekte mit vielen Beteiligten zu managen, stärker ins Handwerk.

  • Vita: Gunter Dueck
  • Gunter Dueck war ­Mathematikprofessor und bis 2011 Cheftechnologe bei IBM in Deutschland. Er arbeitet derzeit als Key­note-Speaker, Buchautor, Netzaktivist und Querdenker zu den Themen technologischer Wandel und neues Verbraucherverhalten. Seine Webseite: ­omnisophie.com

Mittelfristig kommt hinzu, dass die Kunden nicht mehr nur die Möglichkeit haben, im Dorf zu fragen, welcher Handwerker gut ist und ob man den empfehlen kann oder nicht. Sie können  jetzt auch im Internet gucken, welche Bewertung, Reputation, Kunden und Erfahrungen ein Betrieb hat – so wie das bei Hotels oder bei Urlaubszielen schon länger der Fall ist. Das kennen viele Ärzte schon, und es wird demnächst auch auf die Handwerker übergreifen. Die „Selbst-Googler“ sind jetzt überall eine Gefahr, weil die jede Art von Dienstleistung transparent machen. Auch die Preise werden jetzt sehr transparent. Das ist da überall so. Ich gucke etwa bei den Banken, wie viel Zinsen ich jetzt kriege, vergleiche Versicherungsleistungen, google meine Krankheiten, kaufe das Buch online, nachdem ich es im Handel angeschaut habe. Alle Berufe müssen sich dieser Problematik stellen.