Jetzt kommen die Billiglöhner

Arbeitnehmerfreizügigkeit Ab Mai 2011 dürfen Bürger und Betriebe aus acht osteuropäischen EU-Ländern in Deutschland ohne Beschränkung arbeiten. Die Auswirkungen für deutsche Handwerker.

„Den Lohnwettbewerb können deutsche Betriebe nicht gewinnen.“Joachim Möller, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. - © IAB

Jetzt kommen die Billiglöhner

Als vor sechs Jahren zum ersten Mal Einzelunternehmen aus osteuropäischen EU-Staaten auch in Handwerksberufen in Deutschland mit eigenem Personal arbeiten durften, stieg allein im Bereich der Handwerkskammer Oberbayern die Zahl der Gebäudereinigerbetriebe sprunghaft an: von 2004 bis 2010 waren es satte 1048 Prozent, bei Fliesenlegern 497 Prozent.

Droht Deutschland jetzt eine weitere Schwemme von Arbeitern und Unternehmen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn? Denn am 1. Mai 2011 werden die von der EU beschlossene uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit für diese Länder umgesetzt. Werden deutsche Handwerksunternehmen Aufträge verlieren, weil sie mit den Dumpingangeboten der Osteuropäer nicht mithalten können? Oder wird es für deutsche Handwerker mehr Chancen geben, Personal zu finden oder selbst im Osten ins Geschäft zu kommen?

Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai bedeutet, dass Bürger aus den oben genannten EU-Ländern dann genauso wie Bürger aus den „alten“ EU-Staaten ungeachtet ihres Wohnorts in jedem Mitgliedsstaat unter den gleichen Bedingungen eine Beschäftigung ausüben dürfen wie die einheimischen Bürger. Extragenehmigungen sind nicht mehr erforderlich. Der zweite Teil der Regelung betrifft die Dienstleistungsfreiheit. Sie beinhaltet, dass ab Mai Unternehmen aus den Ostländern in Deutschland mit eigenem Personal uneingeschränkt Aufträge übernehmen können.

Mit 100000 bis 300000 Arbeitskräften pro Jahr, die sich in Deutschland einen Job suchen werden, rechnen Experten. Doch damit werde die Arbeitnehmerfreizügigkeit den deutschen Arbeitsmarkt nicht erschüttern. „Eine jährliche Zuwanderung von gut 100000 Personen gleicht noch nicht einmal den Rückgang von Arbeitskräften aufgrund der demografischen Entwicklung aus“, beruhigt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Ohnehin darf ein ausländischer Beschäftigter nicht schlechter als ein deutscher bezahlt werden, deshalb sei die individuelle Zuwanderung kein Problem, findet auch Gerhard Bosch, Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen.

Konkurrenz von Ost-Handwerkern

Anders ist die Situation bei der Dienstleistungsfreiheit. Hier droht den deutschen Handwerksbetrieben Billigkonkurrenz aus dem Osten und eine „Lohn-Abwärts-Spirale“, so IAB-Chef Möller. Unternehmen aus den Beitrittsländern können im Vergleich zu deutschen Betrieben unter „erleichterten handwerksrechtlichen Voraussetzungen Leistungen anbieten“, erklärt Lothar Semper, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Handwerkstags (siehe auch Interview auf Seite 21). Außerdem arbeiten sie unter kostengünstigeren arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen. Zwar müssen die osteuropäischen Betriebe deutsche Mindestlöhne zahlen, wenn sie in Deutschland tätig werden und es in der jeweiligen Branche einen solchen gibt. Trotzdem können sie billiger kalkulieren, weil sie zunächst nicht die teuren deutschen Sozialleistungen entrichten müssen. Der Vorsitzende der Bundesvereinigung Bauwirtschaft, Karl-Heinz Schneider, fürchtet, dass sich die Wettbewerbsbedingungen für inländische Baubetriebe deutlich verschlechtern.

Hungerlöhne bei Zeitarbeitern

Wo es keinen Mindestlohn gibt, werden osteuropäische Unternehmen ihre deutschen Konkurrenten deutlich unterbieten, das gilt vor allem für Zeitarbeitsunternehmen, die auch in Handwerksbranchen aktiv sein werden. Hier könnte ein Mindestlohn die „Ausbreitung von Schmuddelfirmen mit Hungerlöhnen verhindern“, fordert IAB-Chef Möller. Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) spricht sich für einen Mindestlohn im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung aus, doch die Politik streitet noch um eine Regelung.

Zu große Sorgen macht sich das Handwerk aber nicht. „Wir brauchen uns nicht zu fürchten, unsere Betriebe mit ihren qualifizierten Mitarbeitern sind gut vorbereitet“, sagt Handwerkspräsident Otto Kentzler. Auch Lothar Semper sieht bei deutschen Handwerksbetrieben nach wie vor die entscheidenden Wettbewerbsvorteile.

Nicht wenige Experten gewinnen der Neuregelung ab Mai durchaus mehr Chancen als Risiken ab. So könnten vor allem grenznahe deutsche Handwerksbetriebe sich verstärkt nach Arbeitskräften aus Osteuropa umsehen, besonders aber nach Lehrlingen. Die Handwerkskammer Cottbus will jetzt junge Polen für eine Ausbildung bei deutschen Handwerksbetrieben begeistern. Die Chancen dafür stehen gut: Jenseits der Grenze beträgt die Arbeitslosigkeit 24 Prozent und viele polnische Schüler lernen Deutsch.

reinhold.mulatz@handwerk-magazin.de

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