»Geldpolitik kann nicht ewig Wachstum schaffen«

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Banken und Kapitalmarkt

Derzeit hängt die Wirtschaft am Tropf der EZB. Soll das anders werden, müssen viele Länder reformieren. Auch Deutschland, sagt die Wirtschaftsweise Prof. Dr. Isabel Schnabel.

Isabel Schnabel sieht auch in makroökonomischen Trends wie den alternden Gesellschaften eine Ursache für  den niedrigen Zins: »Geringen Investitionen steht ein hohes Sparvolumen gegenüber. Auch das lässt die Zinsen sinken.« - © F.A.Z.-Foto/Frank Röth

Frau Schnabel, die Deutschen ärgern sich über niedrige, sogar negative Zinsen. Ist Mario Draghi schuld daran?

Isabel Schnabel: Nein, so einfach ist das nicht. Die niedrigen Zinsen sind zunächst einmal Nachwirkungen der Finanzkrise. Die Verschuldung im Euroraum ist sehr hoch, sowohl im privaten Bereich als auch bei den Staaten. Die Unternehmen investieren kaum, unter anderem aufgrund der gestiegenen Unsicherheit. Die Europäische Zentralbank reagiert darauf.

Dann ist es falsch, wenn die Sparer über Draghi schimpfen?

Ja, zumal die für sie relevanten Realzinsen, das sind Zinsen minus Inflation, gar nicht so niedrig sind. Außerdem ist die Europäische Zentralbank (EZB) keinesfalls die Einzige, die den Zins bewegt. Es gibt auch langfristige makroökonomische Trends, die erklären, wieso die Zinsen so niedrig sind. Ein wichtiger Faktor ist die Demografie. Dass die Bevölkerung in vielen Ländern immer älter wird und für das Alter spart, trägt zu den niedrigen Zinsen bei. So steht geringen Investitionen ein hohes Sparvolumen gegenüber. Das lässt die Zinsen sinken.

Banken und Versicherungen klagen auch über die EZB. Haben die das alle nicht richtig verstanden?

Die niedrigen Zinsen stellen für sie eine große Belastung dar. Aber die Notenbank ist nicht dafür da, irgendjemandem den gewünschten Zins zu bieten – weder den Banken noch den Sparern. Die EZB ist allein ihrem Mandat, der Preisstabilität, verpflichtet. Und daran muss sie sich messen lassen. Die eine Frage ist: Bewegt sich die EZB im Rahmen ihres Mandats? Das tut sie durchaus. Die andere Frage ist: Legt sie ihr Mandat richtig aus? Da bin ich skeptisch. Denn die EZB legt ihr Mandat sehr eng aus.

Was soll das heißen?

Sie hat das Ziel der Preisstabilität so definiert, dass sie eine ganz bestimmte Inflationsrate anstrebt.

Unter, aber nahe zwei Prozent.

Ja, und dazu betrachtet sie einen bestimmten Verbraucherpreisindex. Dabei gibt es viele verschiedene Indizes, die sich stark unterscheiden. Man kann zum Beispiel die Inflation ohne Energiepreise betrachten, die Kerninflation. Die entwickelt sich weit weniger dramatisch als die gesamte Verbraucherpreisinflation. Sie lag 2015 bei 0,8 Prozent.

Wieso sollte man die Energiepreise herauslassen? Die spielen doch eine Rolle für den Verbraucher!

Ja, aber die EZB hat kaum Einfluss darauf. Wenn der Ölpreis sich stabilisiert, was wir derzeit schon sehen, wird sich auch die Inflation erhöhen. Man könnte übrigens auch den Deflator des Bruttoinlandsprodukts betrachten.

Was ist denn das nun wieder?

Das ist der Preisindex aller Güter, die in einem Land produziert werden. Die so gemessene Inflation lag im Euroraum 2015 bei 1,2 Prozent. Demnach sind wir von einer Deflation weit entfernt.

Viele Kritiker sagen: Draghi nutzt die niedrige Inflation, um eine Politik zu machen, die ihm aus anderen Gründen in den Kram passt. Stimmt das?

Nein. Es wird zum Beispiel gesagt, es ginge nur darum, die Länder in der Peripherie zu entschulden. Diesen Vorwurf kann man nicht aufrechterhalten. Die EZB bewegt sich im Rahmen ihres Mandats.

Aber das Ziel, die Wirtschaft in den Südländern anzukurbeln, ist doch offensichtlich!

Ja, aber das hängt mit der Inflation zusammen. Das eigentliche Ziel ist die Preisstabilität. Doch wenn man höhere Preise will, benötigt man eine florierende Wirtschaft. Und die Konjunktur hat sich ja tatsächlich ganz gut entwickelt.

Ja? So stark ist das Wachstum in der Eurozone auch nicht: 1,6 Prozent im vergangenen Jahr.

Das ist gar nicht so wenig. Tatsächlich ist es mehr als das Potenzialwachstum – das also, was wir erreichen können, wenn wir alle vorhandenen Fabriken, Arbeitskräfte und Maschinen auslasten. Wenn man darüber hinaus mehr Wachstum will, dann braucht es Investitionen, mehr Arbeitskräfte oder technischen Fortschritt.

Oder mehr Kinder?

Ja, jedoch würde das erst in 20 Jahren wirken. Das Arbeitskräftepotenzial steht auf lange Zeit erst einmal fest – abgesehen von der Migration. Deshalb geht es darum, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Da spielen Frauen eine wesentliche Rolle, ebenso wie die Älteren.

Noch einmal zu den 1,6 Prozent Wachstum. Hält das an? Oder ist das nur ein Effekt der Draghi-Milliarden?

Derzeit hängt die Wirtschaft am Tropf der EZB. Denn die meisten Länder haben noch nicht hinreichend reformiert. Auch Deutschland nicht. Wir drehen Reformen sogar zurück. Es ist sehr gefährlich, wenn wir sagen: Uns geht es gut, deshalb müssen wir nichts tun.

Wieso Strukturreformen, wenn die EZB einfach weitermachen kann?

Die Geldpolitik kann das Wachstum der Wirtschaft nicht dauerhaft erhöhen. Außerdem hat sie unerwünschte Nebenwirkungen, vor allem auf die Finanzstabilität.

Preisblasen am Immobilienmarkt?

Ja, das ist eine Gefahr, auch bei uns in Deutschland.

Ist denn schon eine Blase sichtbar?

Das lässt sich so einfach nicht sagen. Wenn die Zinsen sinken, ist es ganz normal, dass Häuser und Wohnungen teurer werden. Das ist dann keine Blase, sondern ein fundamentaler Effekt. Aber auch ein Immobilienboom, der keine Blase ist, kann ein Problem darstellen.

Wieso?

Bei einem Zusammenbruch der Immobilienpreise gibt es immer Auswirkungen auf das Finanzsystem. Denn Immobilien werden meist auf Kredit gekauft. Brechen die Preise zusammen, sinkt der Wert des Hauses, das der Bank als Sicherheit zur Verfügung steht. So können die Banken schnell in den Strudel hineingezogen werden. Ich sehe aber noch eine andere Gefahr der Geldpolitik.

Welche?

Banken vergeben derzeit sehr lang laufende Kredite zu extrem niedrigen Zinsen. Zum Teil kann man für 20 Jahre einen Festzinskredit für deutlich unter zwei Prozent bekommen. Wenn die Zinsen doch irgendwann steigen, dann müssen die Banken den Kunden plötzlich wieder höhere Zinsen zahlen, verdienen selbst aber relativ wenig. Für die deutschen Banken ist das gefährlichste Szenario eines, in dem die Zinsen lange Zeit niedrig waren und dann schnell steigen.

Wenn die Wirtschaft irgendwann richtig anspringt, kann die EZB die Zinsen gar nicht erhöhen, weil sie dann die Banken gefährdet?

Genau. Dann würde auch der Konflikt innerhalb der EZB deutlicher werden. Sie ist einerseits zuständig für die Geldpolitik, andererseits für die Bankenaufsicht. Das dürfte zu Problemen führen.

Vita Isabel Schnabel

Isabel Schnabel, geboren 9. August 1971 in Dortmund, ist Wirtschaftswissenschaftlerin, Professorin an der Uni Bonn und seit Juni 2014 als einzige Frau Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“). Ihre Forschungsgebiete sind Finanzkrisen, Wirtschaftsgeschichte und das Bankenwesen. Davor hatte sie eine Professur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz inne.