Die Sozialversicherungsfalle

Statusfeststellung | Wer im familieneigenen Handwerksbetrieb mitarbeitet, zahlt als Angestellter oft in die gesetzliche Sozialversicherung ein. Im guten Glauben, einmal Leistungen im Ernstfall dafür zu bekommen – ein Irrglaube.

Im Familienbetrieb ist der Inhaber gleichzeitig der Chef, und oft helfen auch noch Sohn, Tochter oder Schwiegersohn als angestellte Mitarbeiter im Unternehmen mit. Viele dieser mitarbeitenden Familienangehörigen zahlen über Jahre Sozialversicherungsbeiträge in die gesetzliche Kranken- und Pflege- sowie Renten- und Arbeitslosenversicherung ein – ohne zu ahnen, dass sie die Beiträge womöglich zu umsonst entrichten. Sozialversicherungsrechtlich ist nämlich ihr Status, Mitarbeiter oder aber Mitunternehmer, nicht eindeutig.

Grundsätzlich scheint die Sache einfach: Wer gegen Entgelt im Familienunternehmen beschäftigt ist, gilt als sozialversicherungspflichtig. Wer hingegen unternehmerisch im Familienbetrieb tätig ist, ist nicht sozialversicherungspflichtig. Der Haken an der Sache: „Für diese Frage, ob jemand unternehmerische Verantwortung hat oder als Angestellter gegen Entgelt beschäftigt und somit sozial-versicherungspflichtig ist, gibt es keine festen Kriterien“, stellt Stephen Nickel fest, Gründer und Inhaber der Financial Networx GmbH in Dortmund, die Betroffene seit 2001 bei Ärger mit der Sozialversicherung berät.

Ärger ist vorprogrammiert

Und Ärger gibt es offenbar häufig. Für die Betroffenen ist er übel: Beantragen sie im Fall der Fälle Leistungen wie Arbeitslosengeld, Erwerbslosenrente oder Mutterschaftsgeld, lehnt die Leistungsstelle – in der Regel die Arbeitsagenturen – den Antrag ab, mit der überraschenden Begründung: „Arbeitnehmereigenschaft liegt nicht vor“.

Wie oft dies vorkommt, dazu gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit keine Zahlen. Nickel und auch die Unternehmerfrauen im Handwerk (UFH) beziffern die Zahl derjenigen, die zu Unrecht Versicherungsbeiträge einzahlen, auf eine Million Menschen. Auf 7,5 Milliarden Euro schätzt Nickel dagegen die Jahr für Jahr die fehl geleiteten Beiträge.

Ulrich Kühn-Richnow jedenfalls hat es hart getroffen. Als Einmann-Unternehmer mit angestellter Teilzeitkraft war er bis zur Betriebsaufgabe Ende vergangenen Jahres formal bei seiner Frau angestellt. In ihrem Namen betrieb er in Troisdorf bei Köln ein Foto-Schnell-Labor. Sein Fall könnte sich so natürlich auch in einem Handwerksbetrieb abgespielt haben. Die gesetzliche Krankenkasse hatte den 52-Jährigen als sozialversicherungspflichtig eingestuft.

Klagen als letzter Ausweg

Kühn-Richnow legte gegen diese Statusfeststellung Widerspruch ein. Nach mehr als anderthalb Jahren endete das Verfahren dann ohne Erfolg. Kühn-Richnow wäre nun noch einAusweg geblieben: gegen die Kasse zu klagen. „Aber das wollte ich nicht“, erklärt er, „das hätte bedeutet, noch mal mindestens zwei Jahre warten.“

Stattdessen beantragte der zwischenzeitlich von Januar bis Juni 2008 Erwerbslose nach der endgültigen Ablehnung seines Widerspruchs verspätet im Mai Leistungen bei der Arbeitsagentur. Die beurteilte seinen Fall indes völlig anders als die Krankenkasse. Ende Mai lehnte sie den Antrag auf Arbeitslosengeld ab, weil Kühn-Richnow „nicht mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden“ habe, wie es in einem Schreiben der Arbeitsagentur vom 16. Juni heißt. Das Fazit lautet: „Arbeitnehmereigenschaft liegt nicht vor.“

Die finanziellen Konsequenzen für Kühn-Richnow sind dramatisch. Seine von 1993 an eingezahlten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge – er beziffert sie auf 40000 bis 50000 Euro insgesamt – sind wohl für ihn unwiederbringlich verloren. Außerdem war die Frist für die Klage gegen die Sozialversicherungsträger gerade abgelaufen, als er den Ablehnungsbescheid von der Arbeitsagentur bekam. Jetzt bleibt ihm nur noch der letzte Schritt: Er kann bloß noch gegen die Arbeitsagentur klagen – um das Arbeitslosengeld für Mai und Juni, maximal 2000 Euro, einzutreiben.

Kassen sind nicht einig

So unterschiedlich die gesetzliche Krankenkasse und die Arbeitsagentur die Fälle einschätzen, so verschieden urteilen sogar die zahlreichen gesetzlichen Krankenkassen. Das erfährt gerade Alexander Rinne. Wie sein Bruder Tobias Rinne arbeitet er im elterlichen Baubetrieb, Karl Rinne in Eitzum bei Hannover. Nachdem die Brüder von dem Problem für mitarbeitetende Familienangehörige gehört hatten, legten sie Widerspruch gegen die Einstufung ihrer Krankenkassen ein, als sozialversicherungspflichtig zu gelten.

Bei Tobias Rinne ging der Widerspruch schnell durch. „Binnen drei Monaten revidierte die Kasse ihre Einschätzung“, erinnert sich Alexander Rinne, „zumindest was die Zeit nach Abschluss der Meisterprüfung von 1995 an betraf.“

Die zu Unrecht gezahl-ten Versicherungsbeiträge von 35000 Euro plus noch mal den gleichen Betrag für den Arbeitgeberanteil erhielten die Rinnes prompt zurück.

Alexander Rinne würde etwa den gleichen Betrag bekommen, schließlich arbeiten die Brüder seit Jahren zu denselben Konditionen im elterlichen Betrieb. Doch er streitet sich noch heute – nach nunmehr fast drei Jahren – mit seiner ehemaligen Kasse und reichte bereits Klage gegen die Gesellschaft ein.

Beiträge zahlt er nicht mehr, seit er im Oktober 2005 in die Krankenkasse seines Bruders wechselte. „Die sagten mir, mein Fall liege sogar noch klarer als der von meinem Bruder.“

Für neue Arbeitsverhältnisse prüft seit dem Jahr 2005 im Zuge der Hartz-IV-Reform eine eigens eingerichtete „Clearingstelle“ der Deutschen Rentenversicherung Bund für neue Arbeitsverträge den sozialversicherungsrechtlichen Status von mitarbeitenden Familienangehörigen – die Prüfung gilt als verbindlich auch für die Arbeitsagenturen. Das Problem: Für Altfälle wie die Rinnes oder Kühn-Richnow bleibt die Unsicherheit aber bestehen, ihr Sozialversicherungsstatus ist weiterhin unklar.

Treffen kann das Problem mit der Sozialversicherungspflicht fast alle Angehörigen von Unternehmerfamilien, die im Familienbetrieb mitarbeiten, selbst die Ehefrau, die für ihren Ehemann Telefondienste schiebt, Lieferscheine und Rechnungen aufsetzt. Schon wenn sie beispielsweise eine Bürgschaft für das Unternehmen unterzeichnet, gilt sie in den Augen der Sozialversicherung nicht mehr als ganz normale Angestellte, warnt Nickel.

Bei wem eines oder mehrere der folgenden Kriterien für Unternehmertätigkeit erfüllt sind, der sollte eine Prüfung des sozialversicherungsrechtlichen Status bei der derzeitigen oder letzten gesetzlichen Krankenkasse beantragen, rät Nickel. „Das wichtigste Kriterium für die Sozialversicherungspflicht ist das unternehmerische Risiko“, erläutert er. „Das ist im Übrigen bei Angehörigen schon durch die Erbfolge gegeben“, betont er. Ebenfalls ein Indiz ist seiner Erfahrung nach, wenn der Arbeitsvertrag nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt. Oft wird er bei Familienangehörigen nämlich nur für den Betriebsprüfer verfasst und schließlich nicht mehr angepasst. Dann werden Arbeitszeiten und Kompetenzen überschritten. Oder Angehörige der Unternehmerfamilien nehmen wegen der betrieblichen Lage über Jahre ihren laut Arbeitsvertrag vereinbarten Urlaub nicht. „Das würde ein Fremder nicht machen“, stellt Nickel fest. Oder es gibt Tantiemen, Boni, Prämien oder Dienstwagen, die Fremden nicht gewährt werden.

Verlustrisiko steigt

Wer nach der Einstufung durch die Kasse noch Zweifel an seinem Status hegt, der sollte in jedem Fall Widerspruch einlegen und gegebenenfalls sogar klagen, rät Nickel. Denn, das weiß er aus der Erfahrung seiner Kunden: Der spätere Leistungsträger ist rechtlich nicht an die Einschätzung der Einzugsstelle gebunden. Er entscheidet von Grund auf neu. Verweigert der Leistungsträger die Zahlung, ist zudem das Verlustrisiko für die Betroffenen gestiegen: Von Anfang dieses Jahres an können sich Betroffene ihre falsch gezahlten Sozialversicherungsbeiträge nur noch für rückwirkend vier plus das laufende Jahr zurückholen: insgesamt also maximal für fünf Jahre. Das gilt auch für die gesetzliche Rentenversicherung, die vorher Beiträge bis zu 30 Jahre zurückerstattete.