Die Personalfalle schnappt zu

Fachkräfte | Dem Handwerk geht das Personal aus. Eine ganze Generation von Mitarbeitern geht in Rente und der Nachwuchs fehlt. Im Osten deutlich mehr als im Westen. Doch es gibt Auswege aus dem Dilemma.

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    Gert Sandow (li.) unterstützt in seinem Elektrounternehmen „EAB-Sandow“ Geselle Marcel Krippendorf (re.) mit Lehrling Ilja Hochmuth bei seinem Fernstudium. Dadurch sichert er sich eine Fachkraft für die Zukunft.
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    Ostdeutsche Arbeitnehmer verdienen weniger als ihre westlichen Kollegen. Um im Wettbewerb um die besten Köpfe zu bestehen, werden Firmen im Osten höhere Löhne zahlen müssen.

Die Personalfalle schnappt zu

Gert Sandow schwört auf Frühwarnsysteme. Nicht nur auf elektronische, wie Einbruch- oder Videoüberwachungsanlagen, mit denen seine Firma ihr Geld verdient. Auch bei der Personalplanung lässt sich der Dessauer, der als Ein-Mann-Unternehmen startete und heute in seiner EAB – G. Sandow GmbH 60 Mitarbeiter beschäftigt, nur ungern überraschen. Wichtige gesellschaftliche Indikatoren hat er immer im Blick, die wie rote Lämpchen seiner Alarmanlagen anzeigen, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht. „Seit einiger Zeit blinkt es häufiger“, bleibt der Diplomingenieur für Industrieelektronik im Bild.

Was Sandow beunruhigt, ist die dramatische Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt: Der Nachwuchs aus den Schulen wird immer weniger, gleichzeitig gehen immer mehr Fachkräfte altersbedingt in Rente. Diese demografische Falle wird mit kleiner Zeitverzögerung auch in Westdeutschland zuschnappen, sind sich Arbeitsmarktexperten sicher. Das Handwerk als großer Ausbilder der Wirtschaft ist besonders betroffen. Deshalb müssen Unternehmen künftig auch unkonventionelle Wege gehen, um sich im Wettbewerb um die besten Fachkräfte zu behaupten, rät Lutz Bellmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.

Handwerksunternehmer Sandow spürt die Entwicklung unmittelbar: „Erhielten wir früher für jede ausgeschriebene Lehrstelle Dutzende Bewerbungen, müssen wir uns heute schon sehr anstrengen, um überhaupt eine echte Auswahl zu haben“, berichtet der 52-Jährige. Als Obermeister der Dessauer Elektroinnung registriert er zudem einen wachsenden Wettbewerb um ausgebildete Arbeitskräfte, vor allem mit der Industrie: „Mehrere Kollegenbetriebe, auch wir selbst, haben in den letzten Jahren qualifizierte Mitarbeiter etwa an Solarhersteller oder Autozulieferer verloren.“

Geburtenknick schlägt durch

Diese demografische Entwicklung wird die ostdeutsche Wirtschaft grundlegend verändern und auch für die westdeutsche nicht ohne Folgen bleiben, prognostiziert Burkart Lutz, Forschungsdirektor im Zentrum für Sozialforschung in Halle (zsh). „Der Osten steht vor einem radikalen Umschwung vom jahrelangen Nachwuchsüberschuss zum dauerhaften Nachwuchsmangel“, warnt der renommierte Soziologe. Ursache sei das Aufeinandertreffen zweier ungewöhnlicher Entwicklungen.

Zum einen schlage der Geburtenknick der Wendezeit auf den Arbeitsmarkt durch. Von 1988 bis 1992 sank die Geburtenzahl in den Neuen Bundesländern um nahezu zwei Drittel von etwa 220000 auf rund 80000. Die Folge: Von 2005 bis 2009 hal-bierte sich nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit die Zahl der Lehrstellenbewerber in Ostdeutschland auf etwa 102000, die Tendenz ist weiter fallend.

Doch das ist laut Forscher Lutz „nur eine Seite der Medaille – die sichtbare“. Was den meisten Unternehmern und auch Politikern bislang verborgen bleibt: „Parallel dazu geht die zahlenmäßig und auch unternehmenspolitisch wichtige Aufbaugeneration der Nachwendezeit in Rente“, so der Wissenschaftler. Ein Aderlass, der der ostdeutschen Wirtschaft schon unter normalen Umständen schwer zu schaffen mache. Denn die 1940 bis 1950 Geborenen bildeten nach der Wirtschafts- und Währungsunion den teilweise bis heute tragenden Kern vieler ostdeutscher Belegschaften. Jüngere waren aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Sozialauswahl bis 1995 zum großen Teil aus den schrumpfenden und sich aufspaltenden Firmen gedrängt, Ältere mit großzügigen Vorruhestandsregelungen aus dem Arbeitsprozess verabschiedet worden. Letzteres so umfassend, dass anschließend die Zahl derer, die vom Erwerbsleben in die Rente wechselten, über ein Jahrzehnt lang fast vernachlässigbar war.

So gingen in den ersten fünf Jahren des neuen Jahrtausends jeweils nur zwischen 12000 und 45000 Erwerbstätige in den Ruhestand. Bei gleichzeitig rund 250000 nachrückenden Jugendlichen pro Jahr war der geringe Ersatzbedarf also bis zu zwanzigfach „überzeichnet“. Oder, wie es Burkart Lutz formuliert: „Die geburtenstarken Jahrgänge der 70er und 80er Jahre saßen in einer demografischen Falle.“

Nun verkehrt sich das ins Gegenteil. So wird die Zahl der Menschen, die aus dem Erwerbsleben in Rente gehen 2011 erstmals die der Schulabgänger übertreffen. In fünf bis sechs Jahren wird es sogar doppelt so viele altersbedingte Berufsaussteiger geben wie jugendliche Neueinsteiger. Dieser Nachwuchsmangel werde auf unbestimmte Zeit anhalten. Dann sind es die Unternehmer, die sich in diesem Dilemma wiederfinden.

Als Gert Sandow vor vier Jahren erstmals von den Prognosen des Zentrums für Sozialforschung hörte, beschloss er, „nicht einfach zu warten, bis die Falle zuschnappt“. Bereits 2006 gehörte sein Unternehmen deshalb zu den Teilnehmern des von der Handwerkskammer Halle initiierten Projekts „Personal Aktiv“. Innerhalb von zwei Jahren wurden dabei Strategien erprobt, um ältere Mitarbeiter besser und länger im Arbeitsleben halten zu können. „Wir haben seitdem die Ergonomie vieler Arbeitsplätze im Unternehmen verbessert, bieten in Zusammenarbeit mit Krankenkassen Ernährungs- und Gesundheitsberatungen an und achten bei der Zusammenstellung der Teams auf eine gute Arbeitsteilung zwischen Alt und Jung“, benennt der Firmenchef wichtige Veränderungen.

Reserve aus verlorener Generation

Neben älteren Mitarbeitern, die gegenwärtig im Durchschnitt zwei bis drei Jahre vor dem gesetzlichen Rentenalter in den Ruhestand gehen, sehen Arbeitsmarktexperten vor allem in der „verlorenen Generation“ der heute 25- bis 35-Jährigen die größte Kapazitätsreserve für den ostdeutschen Arbeitsmarkt.

„Mehrere 100000 Frauen und Männer dieser geburtenstarken Jahrgänge haben trotz teilweise respektabler Schulabschlüsse und erfolgreicher Berufsausbildung nie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden“, erklärt Lutz Bellmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Nach zehn bis 15 Jahren in Gelegenheitsjobs, Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitslosigkeit hätten sich bei vielen dieser jungen Erwachsenen allerdings Frustration und Selbstzweifel aufgestaut. „Ihr berufliches Wissen ist häufig veraltet, wichtige Erfahrungen, etwa im Umgang mit Kunden oder im Zeitmanagement, fehlen“, so der Professor für Arbeitsökonomie. Um diese wichtige Reserve zu erschließen, müssten Wirtschaft, Behörden und Politik maßgeschneiderte Wiedereinstiegsangebote unterbreiten, die neben praxisnahem Wissen auch soziale Kompetenzen vermitteln: „Der Umschwung am Arbeitsmarkt bietet die Chance, durch Beispielkarrieren Wege aus klassischen Hartz-IV-Milieus zu ebnen und so zur Nachahmung anzuregen“, erklärt Bellmann.

Qualifizierung finanziert

Gert Sandow geht lieber neue Wege. So stellt sein Unternehmen Jugendlichen ab der 7. Klasse Ausbildungsberufe des Elektrohandwerks vor, offeriert Schülerpraktika und Ferienarbeitsplätze, um sich beim potenziellen Nachwuchs frühzeitig ins Gespräch zu bringen.

In diesem Jahr unterzeichnete der Firmenchef mit zwei Energieelektronikern seines Unternehmens zudem erstmals Qualifizierungsverträge zur Förderung ihres Fernstudiums an der Hochschule Anhalt. „Zum einen möchte ich damit modernes Know-how ins Unternehmen holen, das wir für die Planung komplexer Gebäudesystemtechnik in Zukunft benötigen“, begründet der Firmenchef die Unterstützung, „zum anderen möchte ich neue, attraktive Karrierewege im Betrieb ermöglichen.“

Die Firma garantiert den angehenden Studenten die tageweise Freistellung für Präsenzveranstaltungen bei voller Gehaltszahlung, übernimmt die Kosten für Fahrten und Fachliteratur und stellt Ressourcen wie zum Beispiel Materialien oder Werkstatträume für praktische Studienarbeiten zur Verfügung. Im Gegenzug verpflichten sich die beiden Facharbeiter, nach erfolgreichem Studienabschluss für mindestens drei Jahre für EAB Sandow zu arbeiten.

Viel stärker als auf die vertragliche vertraut der Chef jedoch auf die emotionale Bindung der künftigen Bachelor-Absolventen an das Unternehmen. Und auf die Signalwirkung an andere Mitarbeiter und künftige Bewerber nach dem Motto „Im Handwerk, da geht was“.

- reinhold.mulatz@handwerk-magazin.de

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