Essay zum Thema Bildungssystem Der Begriff "Akademisierungswahn" schadet dem Handwerk

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Warum die Handwerksorganisation nicht von Akademisierungswahn sprechen sollte und weshalb dieser Begriff das Problem nur noch größer macht.

Akademisierung, Ausbildung, Studium
Kein Gegensatz: Unser Bildungssystem besteht nicht aus zwei Hauptwegen, die sich ausschließen! - © diego1012 - stock.adobe.com

Wissen Sie, welche Antwort ich oft bekomme, wenn ich Geschäftsführer von Handwerkskammern frage, was ihre Kinder machen? BWL oder Jura studieren, oft im Ausland. Ich finde das gar nicht tragisch. Im Gegenteil. Denn die meisten Eltern möchten, dass sich ihre Kinder maximal qualifizieren, den höchstmöglichen Bildungsabschluss erreichen. Doch was ist der höchstmögliche Bildungsabschluss?

Die Idee von Qualifikation hat in Deutschland eine Tradition. Wir erleben heute die dauerhaften Folgen eines dreigliedrigen Schulsystems, das Anfang des vorletzten Jahrhunderts entwickelt wurde, um den Qualifikationsbedarf einer Gesellschaft zu decken, die sich zunächst als Klassengesellschaft, dann als eine Ständegesellschaft beschrieb. Später in der Weimarer Republik definierte man sich dann zunehmend als Schichten-Gesellschaft. Die Vorstellung, dass sich die Sozialstruktur einer Gesellschaft in Form einer Schichtung übereinanderliegender sozialer Ebenen darstellen lässt, führte der Münchner Soziologe Theodor Geiger 1932 ein. Er übernahm die Bezeichnung aus der Bergmannssprache, wo sie Gesteinsschichten beschreibt.

Bildung wird vielfältiger

Allen Selbstbeschreibungen gemeinsam war der Ansatz, dass eine Gesellschaft hierarchisch gegliedert ist. Nach Einkommen, Status oder Bildung. Das hieß für das damalige Bildungssystem: Die Hauptschulen, damals Volksschulen genannt, produzierten Arbeiter und Handwerker. Sie lieferten genau die Menge an Bildung, die man als Arbeiter oder Handwerker benötigte. Nicht mehr. Die Realschulen produzierten die mittleren Beamten und die Angestellten. Und die Universitäten die akademische, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Elite. Die Schulen bildeten also für die Verwendung in der entsprechenden Schicht aus. Und die Menschen blieben in ihrer Schicht.

Heute ist das anders. Wer einen guten Hauptschulabschluss erzielt, geht häufig auf eine weiterführende Schule, wer einen guten Realschulabschluss hat, weiter auf ein berufsbildendes Gymnasium, und wer dort eine gute Hochschulreife erwirbt, der versucht ein Studium.

Für jedes Talent den richtigen Weg

In den späten Sechzigerjahren entwickelt sich die Idee einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Damit war ein Modell geschaffen, mit dem man das Zusammenrücken der Schichten erklären konnte und damit die zunehmende soziale Mobilität. Für die Bildungspolitik hieß das: Wenn sie mehr Chancengleichheit erreichen wollte, musste sie auch eine größere Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen schaffen.

Dazu gibt es bis heute viele Vorschläge: Etwa mit der Gesamtschule das dreigliedrige Schulsystem aufzubrechen. Doch vor allem wollte man viele Bildungswege schaffen, wollte ermöglichen, dass Menschen zwischen den Bildungswegen wechseln können. So entstand etwa der zweite Bildungsweg mit Abendrealschule und Abendgymnasium, so entstanden berufsbildende Gymnasien oder neben dem Abitur unterschiedliche Hochschulreifen wie die Fachhochschulreife und die fachgebundene Hochschulreife, und damit einhergehend die Entwicklung unterschiedlicher Hochschulen. Mit dem Beschluss vom 6. Juni 2009 einigten sich die Kultusminister der Bundesländer auf den „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ und damit auf eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung unter anderem für Meister im Handwerk nach § 45, 51a, 122 Handwerksordnung (HwO). Diese Entwicklung dauert bis heute an. Das sehen wir an neuen Angeboten wie etwa dem Berufsabitur und dem dualen Studium, das in Baden-Württemberg gerade stark ausgebaut wird.

Die Idee: Anstatt lediglich drei Wege oder drei Flüsse zum Beruf zu bieten, haben wir heute eher eine Art Flussdelta an Bildungswegen, das Sie sich am besten wie das Nildelta vorstellen können. Die Kernidee, für jede Begabung, für jedes Talent und jeden Grad an Engagement (oder Fleiß) einen Weg anzubieten, ist kein schlechter Gedanke. Denn falls ein Weg nicht klappten sollte, bietet unser Bildungssystem einen weiteren, einen zweiten oder einen dritten Weg zum Beruf an.

Kein Dualismus im Bildungssystem

Auch die Einführung von Bachelor und Master (viel gescholten und teilweise auch zu Recht), der berüchtigte Bologna-Prozess, hat aus Sicht des Handwerks eher Vorteile gebracht. Dazu müssen wir uns die Entwicklung von Europa anschauen. Eines der Ziele war, künftige Konflikte in Europa zu vermeiden. Ein moderner Lösungsansatz dafür heißt Konvergenz, eine Theorie aus den Wirtschaftswissenschaften. Sie besagt: Je stärker zwei Gesellschaften vernetzt sind, desto ähnlicher werden sie. Je ähnlicher sie sind, desto weniger Konflikte gibt es. Denn Kriege entstehen durch Unterschiede, reale, gefühlte oder fiktive.

Damit das funktioniert, müssen die Menschen beruflich immer mobiler werden. Dazu war es nötig, die schulischen und beruflichen Qualifikationen vergleichbar zu machen und zu vereinheitlichen. Aus diesem Grund wurde der „Europäische Qualifikationsrahmen“ geschaffen, eine Art Systematik der Bildung. Am 31. Januar 2012 wurde der Handwerksmeister auf die Stufe 6 von 8 eingeordnet. Damit stehen die Abschlüsse Bachelor, staatlich geprüfter Techniker und Meister auf der gleichen Stufe. Der geprüfte Betriebswirt nach der Handwerksordnung steht mit Level 7 auf der Stufe des Masters oder des deutschen Staatsexamens.

Unser Nildelta wird also immer breiter. Das Bild, wonach es nur zwei Wege gäbe, eine berufliche und eine akademische Ausbildung, die zwei unterschiedliche Welten oder noch besser zwei abgetrennte Container darstellen, dieses Bild entspricht nicht der Realität. Es macht den jungen Menschen sogar Angst, weil es suggeriert, dass sie in frühen Jahren eine Art Grundsatzentscheidung treffen müssen und dass diese Grundsatzentscheidung nicht umkehrbar ist. Und was geschieht: Es ist doch völlig klar, dass bei diesem Dualismus alle einen möglichst hohen Bildungsabschluss anstreben, möglichst hoch hinaus wollen. Je stärker die Handwerksorganisation nun gegen den Akademisierungswahn wettert, desto stärker wendet sie sich gegen den natürlichen Reflex, die beste mögliche Bildung zu erreichen. Wollen wir wirklich, dass das Handwerk dafür steht, dass Menschen nicht den höchsten Bildungsabschluss erreichen können?

Die alten Gegensätze aufgeben

Wenn sich junge Menschen an einer Hochschule ausprobieren möchten, sollen sie das tun. Auch wenn sie scheitern. Es ist das Privileg der Jugend, etwas auszuprobieren. Und ich würde mir wünschen, dass die jungen Menschen mehr ausprobieren würden. Andererseits: Wenn nun über 50 Prozent eines Jahrgangs an die Hochschulen gehen, ist das sicher keine gute Entwicklung. Es könnte zum Beispiel dafür sprechen, dass das Hochschulniveau zu niedrig ist. Und dieses Niveau werden wir sicher anheben müssen. Doch das sollten wir aus fachlichen Gründen tun, und nicht, um Menschen von den Hochschulen fernzuhalten.

Meisterprämie und Prämie für Ausbildungsbetriebe sind ein guter Anfang

Was also hilft? Beginnen wir mit der Politik: Wir müssen darauf aufmerksam machen, dass die Struktur, die man haben möchte, auch gefördert werden muss: ein starker unternehmerischer Mittelstand sowie eine Vielfalt und eine große Anzahl von kleinen und mittelgroßen Unternehmen. Die im Koalitionsvertrag versprochene Meisterprämie wäre ein guter Anfang. Eine Prämie für Betriebe, die ausbilden, wäre ein guter nächster Schritt. Darüber spricht die Handwerksorganisation bereits. Auch darüber, dass die Berufsschulen mehr Geld brauchen und die Gründungsförderung besser werden muss.

Handwerk mit positiven Begriffen verbinden

Für die gesellschaftliche Anerkennung müssen wir alle etwas tun: Man kann etwa von Experten für Material, Verarbeitung und Oberflächen sprechen. Vom Wissen, wie man Materialien und Formen angenehm für die Hände, für die Augen oder für die Haut macht. Von Form und Gestaltung. Von Konzept und Planung. Davon, wie Sie mit Smart Home die Zukunft des Wohnens bauen, die Energiewende realisieren, Räume angenehm warm oder kühl machen, wie Sie Ihren Kunden mit tollen individuellen Leistungen ein gutes Gefühl geben, wie Sie Lebensträume realisieren.

Es gibt viele Gründe, die Lust auf Handwerk machen. Und machen Sie Lust auf Handwerk! Verbinden Sie Handwerk mit positiven Dingen. Nicht mit einer negativen Abgrenzung gegen ein Konstrukt, das es so gar nicht mehr gibt. Verbinden Sie das Handwerk mit den Interessen, mit den Neigungen, mit den Talenten der Menschen, Dingen Form zu geben, der Welt eine Form zu geben. Konstruieren Sie keine akademische intellektuelle Welt als Gegensatz zu Ihrer, zu unserer Welt. Verbinden Sie das Handwerk mit dem Begriff Karriere! Verbinden Sie das Handwerk mit dem Begriff Weiterentwicklung! Und deshalb sollten wir die alten Gegensätze aufgeben.