Kommentar Das Handwerk braucht Lehrlinge

Die Vorzeichen am deutschen Ausbildungsmarkt haben sich umgekehrt – total. Gab es noch vor Jahren Unternehmen, die Bewerbungsschreiben Wäschekörbeweise zurückschicken mussten und sich in aller Ruhe die jeweils besten Kandidaten aussuchen konnten, gibt es heute – besonders in Ostdeutschland – Betriebe, die händeringend nach Auszubildenden suchen. Lehrlinge: ein knappes Gut! Kommentar von Roman Leuthner

In Ostdeutschland ist die Entwicklung auf dem Lehrstellenmarkt besonders dramatisch. - © ddp
Kommentar

Das Handwerk braucht Lehrlinge

Schlimmer noch, nach den Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), hat sich in den neuen Ländern die Zahl der potentiellen Auszubildenden halbiert. Doch auch in Westdeutschland droht die "Lehrlingslücke", die Unternehmen zwischen Aachen und Hof erwischt es jedoch erst nach einer letzten Schonfrist in zwei oder drei Jahren.

Worin liegen die Ursachen? Zum einen in der demografischen Entwicklung Deutschlands. Jetzt kommen die geburtenschwachen Jahrgänge, jetzt rächt sich, dass hierzulande auf jede gebärfähige Frau zwischen 18 und 40 Jahren – rein statistisch gesehen – lediglich 1,4 Kinder entfallen. Wir werden älter und die Jungen weniger, es sterben weniger Menschen als geboren werden. Für die Älteren, die infolge medizinischer Fortschritte länger leben, ein Segen. Aber auch ein Umstand mit erheblichen gesellschaftspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen.

Zum anderen, und das hat die demografische Entwicklung noch verschlimmert, hat die Politik die seit langem drohenden Alarmzeichen schlichtweg verschlafen. Und da ist keine Partei im Deutschen Bundestag auszunehmen. Das Ressort "Familie, Jugend und Senioren" wurde gerne politischen Leichtmatrosen zugeschoben. Ein Feigenblatt im Kabinett. Chefsache war es nie. Erst Ursula von der Leyen versteht es, ihre Anliegen in Szene zu setzen und sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Die jetzt reformierte Elternzeit hilft jungen Eltern heute besser, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Wenigstens ein Teilerfolg.

An der grundsätzlichen Malaise ändert sich dadurch jedoch wenig. Beigetragen dazu hat auch die deutsche Einwanderungspolitik. Anstatt das Land und seine Wirtschaft gegenüber den Folgen der demografischen Entwicklung zu wappnen und darauf vorzubereiten, wurde nach überkommenen ideologischen Mustern gehandelt. Deutschland ist kein Einwanderungsland, hieß es – obwohl es bei rund fünf Millionen türkischen Mitbürgern und vielen weiteren Angehörigen anderer Nationalitäten de facto schon längst Einwanderungsland ist. Jungen und qualifizierten Migranten wurde es schwer gemacht, in Deutschland Fuß zu fassen. Globalisierung von Waren und Dienstleistungen ja – aber bitte nicht auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Wasch mir den Pelz, aber mach nicht nass: So lautete parteiübergreifend die Devise. Jetzt, allmählich, werden die Folgen der Vogel-Strauß-Politik deutlich, und richtige Maßnahmen wie der "Deutsche Staatsbürgertest" werden ergriffen.

Andere Länder machen es uns seit langem vor, wie es geht. Skandinavische Staaten, Großbritannien, vor allem aber die USA, "importieren" die Qualifiziertesten und Motiviertesten, die sich auf dem Weltarbeitsmarkt tummeln. Sie bieten attraktive Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen und locken mit Anreizen. Damit sichern sie ihren Erfolg im internationalen Wettbewerb, und wenn der US-amerikanische Soziologe und Arbeitsforscher Richard Sennett Recht hat, wären die fundamentalen Probleme der amerikanischen Wirtschaft noch viel offensichtlicher, wenn sie seit langem nicht die jeweils besten Ingenieure, Techniker und Facharbeiter ins Land holen würde. Das oft gehörte Argument hierzulande, man müsse doch zunächst die eigenen Arbeitslosen und die Jugendlichen, die aufgrund schlechter Qualifikation keinen Ausbildungsplatz erhalten, in den Wirtschaftsprozess integrieren, ist richtig – aber offensichtlich nur die eine Seite der Medaille.

Denn wer keinen Nachwuchs mehr hat, kann kein Unternehmen aufrechterhalten. Schon heute suchen viele Betriebe im Handwerk verzweifelt nach einem Nachfolger, wenn die eigenen Kinder kein Interesse am Unternehmerberuf haben. Wenn jetzt auch noch die Lehrlinge zur Mangelware werden, geht es an die Substanz. Und dann?

Gerade das Handwerk muss ein großes Eigeninteresse daran haben, seine Lehrstellen qualifiziert besetzen zu können. Denn es ist absehbar, dass der Wettbewerb zwischen Handwerk, Industrie und Handel um die besten Azubis härter wird und diese die Angebote wählen, die am meisten versprechen: eine zukunftssichere Ausbildung bei guter Vergütung und ausreichenden Weiterbildungsangeboten. Da tritt das Handwerk gegen Großunternehmen und Konzerne an – und findet sich mitten im Globalisierungswettbewerb.

Deshalb ist es höchste Zeit, in die Offensive zu gehen. Selbstverständlich sollten die rund 100.000 "Altbewerber" in Deutschland, die vor allem aufgrund ihrer häufig mangelhaften Qualifikation keinen Ausbildungsplatz erhalten haben, mit zusätzlichen Maßnahmen in den Ausbildungs- und Arbeitsprozess eingegliedert werden. Das ist das erste Gebot der Stunde. Dann aber, denn ihre Zahl reicht bei weitem nicht aus, müssen weitere Schritte folgen, die aktuell offensichtlich angedacht werden. Zum Beispiel die Akquisition ausländischer Jugendlicher, die das Zeug dazu haben, hierzulande eine qualifizierte Lehre im Handwerk zu absolvieren. Das denkt der ZDH gerade an - warum nicht? Das deutsche Handwerk, sein Meisterabschluss und das System der dualen Berufsausbildung haben einen hervorragenden Ruf in der Welt.