Interview zu einem Jahr Pandemie Coach Martin Reinhardt zum Corona-Betriebsklima: "Es wird noch eine Durststrecke geben"

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Chefs und Mitarbeiter spüren, dass die Gereiztheit in Werkhalle und Büro während der Pandemie zugenommen hat. Als Coach sondiert Martin Reinhardt die klimatischen Bedingungen in Betrieben und gibt Tipps für den Umgang mit der Krise.

Martin Reinhardt
Martin Reinhardt, leitender Coach der stg-Die MitarbeiterBerater GmbH mit Sitz in München und Erlangen. - © Tanja Kernweiss
handwerk magazin: Herr Reinhardt, als Coach kennen Sie die aktuelle Lage in den Betrieben. Was bedrückt Teams aus Ihrer Erfahrung in Corona-Zeiten?

Martin Reinhardt: Mitarbeiter fragen sich: Ist mein Arbeitsplatz sicher, hat die Krise Auswirkungen auf meine persönliche Situation? Dazu kommen Arbeitsschutzmaßnahmen und Hygieneregeln. Sie bedeuten einen enormen Aufwand für Chef und Belegschaft, etwa auf Baustellen.

Geben denn Mitarbeiter in der Krise mehr?

Absolut, die Leute geben aktuell alles für die Arbeit, doch es fehlt der private Ausgleich. So hat zum Beispiel das oft übliche „Feierabend-Bier“ auch die Funktion, den Arbeitstag gut abzuschließen. Zudem fehlt das Training im Verein oder die Verabredung, die den Arbeitstag natürlich begrenzen würde. Grübeleien und depressive Verstimmungen können zunehmen. Das trifft auch den Chef.

Welche Folgen hat das?

Wenn sich der Abstand zur Arbeit verringert, wird es für mich als Chef etwa schwieriger, Optimismus zu verbreiten. Der Berg erscheint höher, das Geleistete tritt in den Hintergrund. Werde ich energieloser, fällt es mir schwerer, mein Team positiv und zuversichtlich zu führen. Im schlimmsten Fall entsteht ein Teufelskreis, meine Stimmung färbt auf die Kollegen ab, die Unsicherheit in der Belegschaft nimmt zu, zum Nachteil für die Firma.

Kommt es jetzt häufiger zu Konflikten am Arbeitsplatz?

Je länger die Pandemie dauert, desto dünnhäutiger werden die Menschen, die Gereiztheit nimmt zu. War die Stimmung im Unternehmen schon vor Corona aufgeladen, hat sich das über die letzten Monate manifestiert.

Da braucht es vermutlich eine ordent­liche Portion Widerstandskraft?

Genau, und deshalb sollte man sich diese Fragen stellen: Wie kann ich gut durch die Krise kommen und stabil bleiben? Wie behalte ich den nüchternen Blick und vermeide Rastlosigkeit oder Mutlosigkeit? Und man sollte sich vor Augen halten: Auch als Unternehmer brauche ich Ausgleich, Erholung und andere Kraftquellen.

Wie gehe ich damit um, wenn es mit dem Klima in meiner Werkstatt nicht zum Besten steht? Wenn es nicht so richtig rund läuft?

Erst einmal lenken Sie den Blick darauf, was im Betrieb positiv läuft. Wenn Sie dennoch nicht weiterkommen, sollten Sie das vertrauensvolle Gespräch suchen, etwa mit dem Partner. Der kann aber auch gerade die falsche Anlaufstelle sein. Womöglich stand der Betrieb schon vor Corona im Vordergrund, dann ist die Beziehung vielleicht zu belastet. An der Stelle könnte es jetzt angezeigt sein, sich externe Hilfe zu holen, etwa durch einen Coach.

Aber ist das nicht eher noch ein Tabuthema?

Im Gegenteil, sich Hilfe von einem Berater oder Coach zu holen ist inzwischen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und gilt sogar als professionell.

Wie kann ich mich mental positiv aufstellen, was hilft mir dabei?

Indem Sie schauen: Was hat mich in der Vergangenheit in Krisensituationen weitergebracht? Was tut mir im Alltag gut? Kann ich in Ruhe und ungestört zu Mittag essen, ohne dabei parallel die Mails zu lesen? Gönne ich mir eine Tasse Kaffee in der Sonne, wenn ich das gerne mag? Diese kleinen Pausen sind essenziell, um nicht in die Erschöpfung zu geraten.

Aber was tun, wenn keine Zeit dafür ist?

Dann ist das ein Indiz, dass etwas nicht stimmt. Hier zeigt sich oft ein positiver Effekt externer Beratung. Dann haben Sie einen Termin im Kalender, der der Selbstreflexion dient und mithilfe des Profis werden die Dinge wieder überschaubar.

Und wie unterstütze ich als Chef meine Mitarbeiter, die etwa durch Home­schooling an ihre Grenzen in der Familie geraten? Oder Auffälligkeiten zeigen, weil sie allein leben und das Social Distancing nicht mehr ertragen? Oder sich sehr vor einer Ansteckung fürchten?

Wer als Chef Freiräume und Flexibilität zur Verfügung stellt, schafft ein motivierendes Arbeitsumfeld. Mut und Fingerspitzen­gefühl sind gefragt, wenn es darum geht, einen offensichtlich angeschlagenen Mitarbeiter anzusprechen. Schließlich bewegen sich Chefs hier an der Grenze in den Privatbereich. Erlaubt ist aber, die eigenen Beobachtungen zu schildern und den Mitarbeiter im Fall des Falles sogar dazu zu motivieren, sich professionelle Unterstützung zu holen. Wer besonders Ängstliche in seiner Belegschaft hat, respektiert das Schutzbedürfnis, stellt sich aber andererseits die Frage: Was ist in meinem Betrieb machbar? An der Stelle sind dann auch Grenzen zu setzen. Etwa muss ich als Chef darauf bestehen, dass in einem Raum drei Mitarbeiter sitzen, wenn die Abstände eingehalten werden können, nicht nur einer. Auch in Konfliktsituationen, die etwa das Lüften betreffen, muss der Chef klare Regeln aufstellen.

Wie gehe ich mit Verschwörungstheoretikern oder Corona-Gegnern im Team um, die die gesetzlichen Arbeitsschutz-Regeln nicht befolgen möchten?

Wir alle fühlen uns aktuell wie ein Läufer, dem man nach einem gut absolvierten 400-Meter-Lauf sagt: Und jetzt dieselbe Strecke bitte noch mal, und nach dem neuerlichen Lauf erfolgt die Ansage wieder. Das geht ans Eingemachte. Nichtsdestotrotz darf man als Betriebsleiter aktuell nicht auf die Diskussionsebene gehen. Die Botschaft muss sein: Privat kann jeder denken, was er möchte, im Betrieb gelten die vereinbarten Regeln. Sich an der Stelle durchzusetzen ist manchmal gar nicht so einfach. Auch eine Diskussion über schräge Argumente muss sofort beendet werden.

Wie erklären Sie sich, dass es in den Betrieben auch Mitarbeiter gibt, die sich den Maßnahmen widersetzen, obwohl die Corona-Mutationen offenbar ungleich gefährlicher sind?

Wo viel Ansage ist, kommt viel Widerstand zurück. Daher ist es wichtig, die Mitarbeiter mitzunehmen und ihnen zu erklären, warum das Einhalten der Regeln so wichtig ist. Schließlich geht es um das Fortkommen des Betriebs in dieser Lage. Und wir sollten die Gefahrenseite nicht unterschätzen. Manche, die die Pandemie verharmlosen, sind eigentlich von existenziellen Ängsten getrieben, die vielleicht wahrgenommen und besprochen werden müssen. Generell ist das Bedürfnis nach mehr Freiheiten bei uns allen riesengroß und nur zu verständlich.

Eventuell wird uns die Pandemie noch eine Weile beschäftigen: Wie kann ich mein Team motivieren?

Man sollte dem Team klarmachen, dass es noch eine Durststrecke geben wird. Hier böte sich die Frage an, ob jemand eine Pause oder Unterstützung braucht, und das Angebot, das entsprechend zu organisieren.

Wie bin ich ein guter Chef in Pandemie-Zeiten?

Indem ich lobe und wertschätze, Verständnis für Sorgen und Ängste im Team habe, klare Regeln vertrete und vorlebe, optimistisch bleibe und indem ich auch gut für mich selbst sorge.

Vielen Dank für das Gespräch!

Vita Martin Reinhardt

Martin Reinhardt, Coach
Das Schutzbedürfnis von Mitarbeitern zu respektieren und auszuloten, was im Betrieb machbar ist, rät Reinhardt Betriebschefs im Hinblick auf übertriebene Vorsicht. - © Tanja Kernweiss

Jahrgang 1965, ist Diplom-Sozialpädagoge und seit 30 Jahren erfahren in Führungskräftecoaching, Teamentwicklung und Konfliktmanagement. Er unterstützt bei Burn-out-Gefahr und in Lebenskrisen. Reinhardt leitet das 40 Berater umfassende Team der stg-Die MitarbeiterBerater GmbH mit Sitz in München und Erlangen, die bundesweit externe Sozialberatung für Unternehmen anbietet. Seit Beginn des Lockdowns hat der Dienstleister im Auftrag seiner Kunden 1.400 Stunden Beratungen mit Mitarbeitern in schwierigen Situationen geführt (2019 waren es 500).