Ausbildung der Generation Ü40 Azubis über 40: Chancen und Herausforderungen im Praxis-Check

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Ausbildung, Fachkräftemangel und Mitarbeitermotivation

Xiella Selbach und Simone Tönnes fallen in der Berufsschule auf. Wo sonst fast nur Jugendliche sitzen, haben auch die Ü40-Frauen zwei Jahre kräftig gepaukt. Und die Prüfung geschafft, was sie und ihre Chefs gleichermaßen freut. Doch die Zusammenarbeit im Alltag fordert von beiden Seiten viel Einfühlungsvermögen.

Opikerin Tönnes und Optiker Busch
Daniel Busch, Optikermeister in Essen, hat der 46-Jährigen eine Ausbildung in ihrem Traumberuf ermöglicht – zum Vorteil für beide Seiten. - © Rudolf Wichert

„Sind Sie eine neue Lehrerin?“, wurde Simone Tönnes an ihrem ersten Tag in der Berufsschule gefragt. „Nein, ich bin Schülerin.“ Mit der Antwort hatte ihr Gegenüber wohl kaum gerechnet. Denn Tönnes war zu dem Zeitpunkt bereits über 40 Jahre alt. Dennoch saß sie nicht etwa am Lehrerpult, sondern gemeinsam mit ihren viel jüngeren Mitschülern auf der Klassenbank – und lernte, was Optiker können und wissen müssen. Eigentlich hatte Tönnes auch schon kurz nach der Schule ins Handwerk einsteigen wollen, hatte aber keinen Ausbildungsplatz gefunden. Mehr als 20 Jahre später macht sie ihren Traum vom Optikerberuf nun doch noch wahr.

Damit ist sie eine von ganz wenigen Menschen, die sich für eine so späte Ausbildung entscheiden. Nur rund drei Prozent oder exakt 3.849 der frischen Handwerksazubis im Jahr 2019 waren 31 Jahre oder älter. Über alle Branchen hinweg liegt der Wert sogar noch niedriger, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Viele Arbeitnehmer können sich wohl nur schwer vorstellen, gemeinsam mit Jugendlichen noch einmal die Schulbank zu drücken. Und viele Unternehmer sind skeptisch, wenn sie die Bewerbung eines älteren Arbeitnehmers für eine Ausbildung bekommen. Kann das wirklich gut gehen, jemanden in dem Alter noch einmal in eine Ausbildung zu stecken?

Vorteile für Azubi und Betrieb

Tatsächlich ist es nicht ganz einfach, eine späte Ausbildung erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Wenn es gelingt, hat es aber für beide Seiten große Vorteile, sagt Volker Born, Leiter der Abteilung Berufliche Bildung beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) : „Wenn Chefs bereit sind, ältere Azubis einzustellen, können sie sich neue Bewerber-Gruppen erschließen und so noch erfolgreicher Fachkräfte sichern.“ Und für Menschen wie Tönnes, die in mittlerem Alter noch einmal einen beruflichen Neustart wagen wollen, ist eine Ausbildung im Handwerk eine große Chance auf einen langfristig sicheren Arbeitsplatz.

Optiker-Azubi Tönnes kam allerdings eher durch Zufall auf die Idee, mit einer Ausbildung noch einmal von vorne anzufangen. Von einer Bekannten hörte sie, dass ein Optiker in der Stadt eine Teilzeitkraft suchte. „So eine Teilzeitstelle am Empfang oder im Büro wäre doch optimal“, dachte sich Tönnes. Die Essenerin ist nämlich Einzelhandelskauffrau, hat lange an der Kasse gearbeitet. Später ließ sie sich zur Kauffrau im Gesundheitswesen weiterbilden, arbeitete aber nur wenige Monate in der Branche, weil sie ein Familienmitglied pflegen und sich um ihre Tochter kümmern musste. Als die größer war, machte sich Tönnes auf die Suche nach einer Stelle, bekam aber meist nur Minijobs angeboten. Vom Arbeitsamt hieß es nur: „Sie sind schon vier Jahre aus Ihrem Beruf raus, da sind Sie quasi ungelernt.“

Wichtigste Voraussetzung: Teamfähigkeit

Auch Optiker Daniel Busch war zunächst skeptisch, als er Tönnes´ Bewerbung erhielt. Ausgebildet hat er in seinem Geschäft in der Essener Innenstadt noch nie, den Laden schmiss er seit Langem mit zwei festen Mitarbeiterinnen. Aber als die Nachfrage stieg und die Kunden immer mehr wurden, suchte er eine zusätzliche Mitarbeiterin. „Als Aushilfe hätte uns Frau Tönnes schon gut helfen können, aber eigentlich wollte ich ja einen Optiker, der in allen Bereichen mit anpacken kann“, sagt der Handwerker. „Darum fragte ich sie einfach, ob sie nicht stattdessen eine Ausbildung bei mir machen möchte.“ Bedenken hatte er dabei nicht. „Bei einem ersten Treffen merkte ich sofort, dass Frau Tönnes super zu uns ins Team passt. Das Alter spielte dabei gar keine Rolle.“ Für die heute 46-Jährige war das die Chance, endlich ihren Traumberuf zu erlernen.

Ein guter Deal für beide Seiten, findet auch Experte Born: „Ältere Auszubildende sind in der Regel sehr motiviert, da sie sich in einer späteren Lebensphase noch einmal bewusst für eine Ausbildung entschieden haben“, erklärt er. „Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich nach ihrem Abschluss langfristig an den Betrieb binden.“ Chefs müssen also keine große Angst davor haben, die perfekte Fachkraft auszubilden und dann an die Konkurrenz zu verlieren. Die Investition in einen älteren Azubi zahlt sich laut Born also häufiger langfristig aus.

1.500 Euro Erfolgsprämie für die erfolgreiche Ausbildung

Augenoptikmeister Busch profitiert mit der Entscheidung für Tönnes als Auszubildende gleich doppelt: Er hat eine motivierte Mitarbeiterin gefunden und wird für deren Ausbildung auch noch finanziell vom Arbeitsamt unterstützt. Denn die Ausbildung läuft offiziell im Rahmen einer sogenannten „Betrieblichen Einzelumschulung“ ab. Durch ihre Berufspause und den missglückten Wiedereinstieg in ihren ursprünglich erlernten Job hat sich die 46-Jährige für diese Maßnahme qualifiziert. „Das Arbeitsamt fördert die Umschulung und zahlt aktuell 75 Prozent des Ausbildungsgehalts“, berichtet Busch. Je nach Ausbildung oder Weiterbildung gibt es von der Arbeitsagentur nach erfolgreichem Abschluss bis zu 1.500 Euro als Prämie.

Die Bedingungen des Arbeitsamts brachten Tönnes dazu, die Ausbildung schneller abzuschließen als ursprünglich geplant: „Eigentlich wollte ich die Ausbildung in Teilzeit absolvieren, das ist im Handwerk ja möglich.“ In Kombination mit der Förderung ging das aber nicht. „Stattdessen mache ich jetzt die verkürzte Vollzeitausbildung, das heißt zwei Jahre lang richtig pauken.“ Das ist nicht immer leicht, schließlich kümmert sich Tönnes nebenbei weiter um Haushalt und Familie. Aber sie erhält von allen Seiten Zuspruch und Hilfe. „Ich bin aktuell leider nicht die Beste in der Berufsschule und am Anfang habe ich mich mit dem vielen neuen Stoff schwergetan“, gibt Tönnes zu.

Hilfe beim Lernen und beim Zeitmanagement bieten

Eine typische Herausforderung bei älteren Azubis, weiß Bildungsexperte Born: „Weil die Schule bei älteren Azubis schon länger zurückliegt, müssen sich manche erst wieder an das Lernen gewöhnen.“ Hinzu kommen andere Verpflichtungen. „Nicht selten haben ältere Auszubildende bereits Familienverantwortung, was ein individuelles Zeitmanagement erforderlich macht, um sich etwa auf Klassenarbeiten an der Berufsschule und auf Prüfungen vorzubereiten.“

Auch Busch als Ausbilder musste aus diesem Grund etwas flexibler werden. Damit Tönnes trotz verkürzter Ausbildung genug Zeit zum Lernen hat, ist er ihr entgegengekommen: „Ich bin jede Woche drei Tage im Betrieb und zwei in der Berufsschule“, sagt die Auszubildende. „So konnte ich im ersten Jahr Kurse der Unter- und Mittelstufe besuchen, jetzt die restlichen der Mittel- und alle der Oberstufe.“ Dass sie im Klassenzimmer neben Jugendlichen und jungen Erwachsenen sitzt, stört sie nicht. „Ich habe darauf bestanden, dass mich alle duzen. Wir sind schließlich alle Schüler und da will ich keine Extrawurst.“

Mit Erfahrung und Selbstbewusstsein punkten

Ihre offene Art hilft Tönnes nicht nur in der Berufsschule, sondern auch im täglichen Geschäft. Schließlich arbeitet sie als Optikerin direkt am Kunden. „Man merkt einfach, dass Frau Tönnes mehr Erfahrung hat als jüngere Azubis und dass sie sehr selbstbewusst ist. Sie geht direkt auf Kunden zu und kommt damit super an“, sagt Unternehmer Busch.

Friseurin Xiella Selbach
Friseurin Xiella Selbach (43) war unterfordert und hat nach der Prüfung gekündigt. - © Rudolf Wichert

Solche Komplimente bekommt auch Xiella Selbach oft zu hören. Die 43-Jährige hat vor zwei Jahren eine Ausbildung zur Friseurin begonnen. Im Januar hat sie ihre Abschlussprüfung gemeistert und damit erstmals seit der Schule einen Abschluss erworben. „Ich habe lange Jahre in der Gastronomie gejobbt, mal hier mal da, aber nie einen Beruf richtig von Grund auf erlernt“, sagt Selbach. Lange Zeit war ihr das egal. Aber dann begann sie, einen Job im Handwerk zu suchen. „Ich wollte was mit meinen Händen machen, also arbeitete ich eine Weile im Schneideratelier und bei einem Goldschmied.“

Da war aber noch nicht das Richtige dabei. „Ich bin eher ungeduldig, will schnell Ergebnisse meiner Arbeit sehen. So bin ich auf den Beruf des Friseurs gekommen.“ Nach einem Praktikum bewarb sie sich als Auszubildende. Im Bewerbungsgespräch stellte ihre zukünftige Chefin dann eine Frage, mit der Selbach nicht gerechnet hatte: „Haben Sie eigentlich ein Problem mit Autoritäten ?“ Für ZDH-Experte Born ist das eine berechtigte Sorge: „Bei älteren Auszubildenden kann es zu Autoritätsproblemen kommen, etwa wenn die Kollegen deutlich jünger sind als der oder die Auszubildende.“ Hängt der Segen im Betrieb eh schon schief, könnte ein Streit um Autoritäten das Fass zum Überlaufen bringen.

Jüngere Chefs zu akzeptieren fällt nicht immer leicht

Selbach konnte ihre deutlich jüngere Chefin aber beruhigen: „Nein, das stört mich nicht.“ Und zu diesem Wort steht die Kölnerin. Mit jüngeren, über ihr stehenden Kollegen hatte sie während und nach der Ausbildung kein Problem. Ganz glatt lief es in der Ausbildung und danach trotzdem nicht. Denn Selbach fühlte sich in ihren Fähigkeiten oft unterschätzt . „Der Betrieb hat sehr von meiner Vorerfahrung profitiert. Ich war mit über 40 in vielen Dingen natürlich schon weiter als 16-jährige Azubis.“ Selbach ist wie Tönnes sehr selbstbewusst, geht direkt auf Kunden zu. Hinzu kommen weitere Fähigkeiten, beschreibt Selbach: „Ich bin Mutter und habe dadurch gelernt, mich selbst zu organisieren, mit Vorräten zu wirtschaften und vieles mehr.“

So brachte sich Selbach im neuen Job voll ein: „Mir muss man nicht lange erklären, wann ich Produkte nachbestellen muss und wie ein Lager funktioniert.“ Mehr als nette Worte hat die Kölnerin für ihren Tatendrang aber nach der Ausbildung nicht bekommen. „Der Betrieb spart sich Zeit und Kraft in der Ausbildung. Einen schnelleren Aufstieg oder anspruchsvollere Aufgaben habe ich im Gegenzug nicht bekommen.“ Selbach fand das oft unfair. Und so ist die frischgebackene Friseurin nun erst mal wieder arbeitslos. „Ich war in meinem Betrieb nicht wirklich zufrieden und möchte mich darum woanders weiterbilden. Und nicht mehr nur fegen, färben und putzen, sondern endlich schneiden.“

Wer ältere Azubis einstellt, sollte also auch bereit sein, ihre Stärken und ihr Selbstbewusstsein anzuerkennen und zu fördern. Nur dann profitieren beide Seiten optimal voneinander.

Checkliste: Worauf Chefs bei älteren Azubis achten sollten

Wer von der Schulbank in die Ausbildung wechselt, ist das Lernen gewöhnt, hat aber noch kaum Lebenserfahrung. Bei älteren Azubis ist das genau umgekehrt: Sie haben oft Familie und stehen mitten im Leben, müssen sich aber erst wieder an das Lernen gewöhnen. Ein wichtiger Unterschied, der sich auch im Betriebsalltag auswirkt, wie die folgenden Punkte zeigen.

  1. Vorerfahrung Wer erst spät eine Ausbildung anstrebt, hat meist zuvor in verschiedenen Berufen gearbeitet und sich dadurch viele Kompetenzen erarbeitet. Diese Lebenserfahrung lässt sich oft auf die Ausbildung übertragen. Fragen Sie Bewerber, welche Fähigkeiten sie sich selbst zuschreiben. So können Sie gemeinsam vorhandene Talente ausbauen und neue Kompetenzen erlernen. So fühlen sich auch ältere Auszubildende wertgeschätzt und individuell gefördert.

  2. Autorität Sind Sie selbst als Chef und der Großteil der Belegschaft jünger als der Bewerber, sollten Sie die Themen Verantwortung, Weisungen und Autorität früh ansprechen, damit es nicht später zu Problemen kommt. Im Zweifel können ein Praktikum oder Probearbeit helfen, um zu testen, ob das Miteinander funktioniert.

  3. Selbstbewusstsein Menschen über 30 sind in der Regel selbstbewusster als junge Menschen, die gerade die Schule beendet haben. Das kann ein Vorteil sein, weil sich ältere Azubis so schneller einarbeiten und im Umgang mit Kunden und Kollegen weniger Hilfestellungen benötigen. Es kann aber auch Sie als Chef herausfordern.


  4. Förderungen Bewirbt sich ein älterer Kandidat bei Ihnen als Auszubildender, fragen Sie nach den genauen Hintergründen für den Berufswechsel. Hat die Arbeitsagentur zum Beispiel eine Umschulung angeordnet oder war derjenige lange Zeit arbeitslos, können Sie von Förderungen profitieren. War der Bewerber lange nicht berufstätig, kann es aber auch Anlaufschwierigkeiten geben – beim Lernen in der Berufsschule, aber auch bei der Eingewöhnung in einen normalen Arbeitsrhythmus.

  5. Arbeitszeiten Klären Sie Bewerber über die üblichen Arbeitszeiten in Ihrem Gewerk und Vereinbarungen in Ihrem Betrieb auf. So können Ausbildungsinteressierte abschätzen, ob die Zeiten zu ihrem Leben passen. Denn häufig haben ältere Auszubildende schon familiäre Verpflichtungen und sind zeitlich weniger flexibel als junge Azubis.