Altersgerechte Technik: Der neue Markt der Assistenzsysteme

Zugehörige Themenseiten:
Altersgerechte Assistenzsys (AAL)

Elektronische und IT-basierte Produkte sollen ­älteren oder beeinträchtigten Menschen helfen, lange selbstbestimmt zu leben. Dieser Markt bietet auch Handwerkern Einstiegsmöglichkeiten.

  • Bild 1 von 2
    © Infografik: Thomas Di Paolo
    Die vier Anwendungsfelder der Assistenzsysteme: Altersgerechte Produkte (auch AAL-Systeme genannt) helfen, den Alltag selbstbestimmt zu bewältigen. Einen Überblick finden Sie auf unserer Website.
  • Bild 2 von 2
    © Dennis Bartz
    „Wir bieten ‚funktionsgerechte Produkte‘ anstatt ‚altersgerechte‘. Dieser Begriff spricht Kunden eher an.“ René Budries, ­ Tischlermeister aus Salzgitter-Engelnstedt.

Altersgerechte Assistenzsysteme? Der Begriff war den rund 40 Mitarbeitern der Bruckhoff Hannover GmbH bis 2013 kaum bekannt. Inzwischen kennen sie sich aus. Seit einem Jahr arbeitet das Hörgeräteakustikunternehmen selbst an einem System für ältere oder beeinträchtigte Menschen: Eine Hörbrille soll mit Mikrofon, Sensoren sowie Bluetooth ausgestattet werden und als mobiles Telefon und sprachgesteuerter Notruf dienen, das Befinden des Trägers erfassen, an Medikamente erinnern oder auf Gefahrensituationen aufmerksam machen. Unauffällig und einfach zu bedienen.

Dafür schloss sich der Hörgeräteakustiker dem Forschungsprojekt AHEAD (Augmented Hearing Experience and Assistance for Daily life – also verbessertes Hörerlebnis und Hilfe im täglichen Leben) an: neun Projektpartner, vier Länder, drei Jahre Laufzeit und ein Projektvolumen von 3,6 Millionen Euro. „Spannend ist, mit so vielen Unternehmen zusammenzuarbeiten“, betont Jürgen Braun, Projektkoordinator bei Bruckhoff. „Unser Know-how wächst enorm.“

Hilfe für ein selbstbestimmtes Leben

AHEAD und 40 ähnliche Projekte unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Das Ministerium treibt die Entwicklung der sogenannten AAL-Systeme (Ambient Assisted Living – also umgebungsunterstütztes Leben) oder auch Altersgerechte Assistenzsysteme in Deutschland besonders voran. Das Ziel: Die gesellschaftliche Teilhabe älterer und beeinträchtigter Menschen sichern. Denn bis 2030 werden knapp 30 Prozent der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre sein und vier Millionen Menschen das 85. Lebensjahr überschritten haben. Ihnen könnten die Assistenzysteme ermöglichen, lange selbstbestimmt zu leben.

Gemeint sind technische und elektronische Produkte im Gesundheits-, Haushalts-, Mobilitäts- und Kommunikationsbereich, die den Alltag erleichtern: Funkarmbänder, die beim Sturz den Krankendienst informieren; Sensoren für Herdplatten, die die Aktivität überwachen und warnen können; Möbel oder Kleidung, die Vitalparameter messen und den Arzt informieren; Tablets, die Kommunikationskanäle bündeln und vereinfachen; aber auch weniger komplexe Lösungen wie automatische Türöffner oder Bewegungsmelder. (Einen Überblick finden Sie auf unserer Website.)

Wie viele Handwerksbetriebe sich bisher in Entwicklung, Produktion und Vertrieb der Systeme einbringen, ist laut Christine Weiß von der VDI / VDE Innovation + Technik GmbH unklar. Der Dienstleister, dessen Gesellschafter der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) sowie der Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) sind, ist ein vom BMBF beauftragter Projektträger im Förderschwerpunkt „Mensch-Technik-Interaktion“. „Zu Beginn war AAL stark von Elektronikanbietern geprägt“, sagt die Expertin. „Inzwischen bringen sich viele Branchen ein und der Fokus liegt eher auf der allgemeinen Alltagsunterstützung.“

Kunden beraten, Absatz steigern

Das birgt einen Vorteil für Handwerker: Denn Alltagsunterstützung heißt meist: individuelle Lösungen. Und die setzt am besten der Handwerker um, der den Kontakt zum Kunden pflegt und weiß, wo dessen Probleme liegen. Sein Wissen kann er auf verschiedene Weise einbringen. (Siehe Kasten „Expertentipp“, Seite 25.)

René Budries, Bau- und Möbeltischlerei Budries in Salzgitter-Engelnstedt, hat das erkannt. Er bietet Produkte wie höhenverstellbare Tische, Türschlösser für Transponder-Schlüssel oder Video-Türspione an. Um das Geschäftsfeld noch auszubauen, ist das Unternehmen zudem Partner von „GeniAAL beraten“, ein Informationszentrum der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade und des BITZ (Braunschweiger Informatik- und Technologie-Zentrum). Das Projekt (www.geniaal-beraten.de) richtet sich an Kunden und Handwerk. „Unser Ziel ist, Informationen über AAL zu streuen, das Bewusstsein der Gesellschaft zu stärken und Handwerker zu qualifizieren“, erklärt Koordinatorin Ann-Kathrin Lumpe vom BITZ.

Den Kunden bietet „GeniAAL beraten“ erste Informationen bis hin zur Planung des Umbaus oder Einbaus. Für die etwa 40 Handwerker im Projekt gibt es Fortbildungen wie das AAL-Basisseminar, das Wissen über die Klientel, Erkrankungen und Marketingstrategien vermittelt und mit dem Erwerb des Markenzeichens „Generationenfreundlicher Betrieb“ abschließt.

Zudem entstehen Geschäftskontakte, wenn sich Kunden für ein Projekt entscheiden. „Der größte Nutzen für den Kunden ist die Rundum-Beratung aus einer Hand“, fasst Budries zusammen. Und der Nutzen für ihn? „Zusätzliche Aufträge und ein großer Bekanntheitsgrad.“ Das erste Wohnungsprojekt hat Budries dank „GeniAAL beraten“ bereits umgesetzt.

Kooperation erweitert das Sortiment

Auch Kammern, Verbände und Hochschulen haben das erkannt und bieten an vielen Standorten Studiengänge sowie Fortbildungsmöglichkeiten für Handwerker an (weitere Informationen im Download). Zusätzlich schulen auch die Produkthersteller selbst. Heinz Fleißner aus Augsburg-Lechhausen beschäftigt sich seit Längerem mit altersgerechten Assistenzsystemen. Er ließ sich unter anderem beim österreichischen Anbieter für Gebäudeautomation cTrixs schulen. Seitdem gehört das Paket „MethusaHOME“ zum Sortiment: ein Sicherheitssystem für die komplette Wohnung mit Kochfeldüberwachung, Aktivitätserkennung, Rauchmelder, Notruftaster und GPS-Notrufarmband.

Als Partner des Herstellers kann Fleißner seine Kunden über die Technik informieren, sie beziehen und installieren. „Leider sind die Möglichkeiten – wie altersgerechtes Wohnen oder Telemedizin – oft mit einem negativen Touch behaftet und werden mit den Argumenten ‚zu teuer‘ oder ‚zu viel Funk‘ abgewertet“, sagt Fleißner. Die Nachfrage nach Projekten wie „MethusaHOME“ ist also noch gering. Bisher hat der Handwerksmeister nur einzelne Produkte wie die Herdüberwachungen angebracht.

Auch Budries erkennt Schwieirigkeiten: Er schätzt die Beschäftigung seiner Kollegen mit Assistenzsystemen als gering ein. „Obwohl das noch ein riesiger Markt wird“, ist er sicher. Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Reiner ­Wichert, Sprecher der Fraunhofer-Allianz Ambient Assisted Living. In diesem Forschungsverbund entwickeln 13 Institute unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam AAL-Systeme. Bisher gibt es am Markt laut dem Experten vor allem einzelne Lösungen, deren technologische Entwicklung schon relativ weit fortgeschritten sei. Das Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung, an dem Wichert forscht, will einen Schritt weiter gehen. „Wir suchen nach Lösungen, die die Produkte verbinden.“ Also übergreifende Systeme, die mehrere Alltagshandlungen auf einmal erleichtern. „Und da ist dann das Handwerk beim Einbau, aber auch dessen Expertise bei der Entwicklung gefragt.“

So auch beim Alltagsassistenten AHEAD: Das Grundsystem – die Hörbrille mit Knochenleiter – bietet das Hörakustikunternehmen Bruckhoff seit mehreren Jahren an. Auch der Handwerksbetrieb hatte bereits die Idee, das Produkt per Bluetooth mit einem Mobiltelefon zu vernetzen. Doch an der Umsetzung scheiterte es alleine. Nun kooperiert es mit Industrie und Forschung. Dabei entsteht aus dem Basissystem Hörbrille ein erweiterter Alltagsassistent, der Sicherheit und Orientierung unterwegs gibt, den Gesundheitszustand überprüft und dem Nutzer hilft, soziale Kontakte zu pflegen. Kurz: Ein Alltagsbegleiter für viele Lebenslagen.

Noch ist das Produkt erst in der Entwicklung. Doch Jürgen Braun geht davon aus, dass die Markteinführung am Ende erfolgreich sein wird. „Und dazu knüpfen wir internationale Kontakte für die Zukunft“, freut sich Braun.